ENTWEIHT
»Pst!«, flüsterte sie. »Ist das ein Licht dort oben, in ihrer Stube?«
Sie zogen sich unter das Laubdach des Feigenbaumes zurück und spähten durch die Zweige hinauf zum höchsten Fenster des rechteckigen Turmes, hinter dem sich Vavaras Gemächer befanden. Schimmerte dort wirklich ein Licht? Hatte die Lady eine Kerze entzündet?
»Nur das Mondlicht, das sich in der Scheibe bricht«, zischte Delia nach einer Weile, »mehr ist da nicht.«
»Bist du sicher?«
»Ja, natürlich bin ich mir sicher. Es ist Nacht und deine Fantasie geht mit dir durch, das ist alles. Außerdem haben wir jedes Recht, hier zu sein. Ja, wir dürften überhaupt nirgendwo anders sein, schließlich haben wir Wache. Ha! Allein schon die Vorstellung, dass wir diesen Ort, dieses Ungeheuer bewachen müssen – als wäre es ihre Festung und kein Kloster ...«
»Aber es ist doch ihre Festung!«, entgegnete Anna. »Ihre Stätte.«
»Ja«, nickte Delia, »So ist es wohl.« Nach einem Moment fuhr sie fort: »Na ja, wo war ich stehen geblieben?«
»Sara«, flüsterte Anna. »Sie war eifersüchtig.«
»He?«, machte Delia. Mit ihren gelben Augen blinzelnd, legte sie überrascht die Stirn in Falten. »Hm, ja, wahrscheinlich. Die Hölle kennt keinen schlimmeren Zorn als den einer verschmähten Frau, eh? Aber es stimmt schon, ja! Und Sara durchlebte gleich eine zwiefache Hölle: Erst wurde sie von Vavara mit ihrem Gift infiziert und dann von ihr betrogen.
Also fing Sara an, sich Vavara, wo es nur ging, zu widersetzen. Sie entkam aus ihrer Stube und versuchte aus dem Kloster zu fliehen. Doch Vavara fing sie wieder ein und sperrte sie erneut weg. Und für all die Schwestern, die ihr noch nicht erlegen waren – es gab nämlich immer noch ein, zwei und natürlich uns beide – wurde das Gerücht in Umlauf gesetzt, Sara sei durchgedreht und es bestehe die Gefahr der Selbstverstümmelung. Aber die Krankheit werde vorübergehen, irgendwann sei es vorbei. Doch bis dahin müsse Sara eingesperrt bleiben, einzig Vavara und diejenigen der älteren Schwestern, die bereits Vavaras Sklaven waren, durften sich um sie ›kümmern‹.
Und so wurde sie noch zwei Jahre lang quasi in Einzelhaft gehalten, gequält und gefoltert von dieser Vampirhexe Vavara, die beschlossen hatte, Sara niemals mehr freizulassen. Jedenfalls nicht lebendig.
Aber sie kam frei, vor gerade einmal neun Tagen oder sollte ich sagen: Nächten? Denn wie wir Übrigen auch, und vielleicht mehr als manche andere, war Sara ihrem vergifteten Blut erlegen und konnte die Sonne nicht länger ertragen, weder auf ihrer Haut noch in den Augen. Also versuchte sie ein letztes Mal zu fliehen, in den Abendstunden, während Vavara noch schlief. Sie probierte es auf der Straße nach Skala Astris, von wo sie ein Taxi nach Krassos zur dortigen Polizeiwache nehmen konnte. Von dort aus wollte sie telefonieren, die Zentrale ihres Ordens in Athen verständigen und sich in ärztliche Behandlung begeben, um den Ärzten ihre … Entstellung zu zeigen. Sie hatte vor, Vavara anzuzeigen und der Herrschaft des Bösen ein Ende zu setzen.
Woher ich das weiß? Weil ich in jener Nacht Wache hatte zur Buße dafür, dass ich Vavara irgendwie merkwürdig angesehen hatte. Sie war der Meinung, sie habe in meinen Augen Hass aufblitzen sehen – was der Wahrheit entsprach – und warnte mich, dass es sowohl kleinere als auch größere Strafen gebe. Aber ihre Drohungen bestärkten mich nur in meinem Entschluss. Nun – weshalb machte ich mich dann nicht gemeinsam mit der armen Sara nach Krassos auf, um ihre Geschichte zu untermauern? Weil ich nicht davon ausging, dass sie es schaffen würde. Nachdem ich Vavara schon so lange beobachtet hatte, war mir klar, dass es unmöglich so einfach sein konnte. Und wenn Sara scheiterte, wer bliebe dann noch, um sie zu rächen und Wiedergutmachung zu fordern für das Unrecht, das ihr und anderen – ja, uns allen – in diesem unheiligen Kloster widerfahren war? Ah, und wer eignete sich besser dafür als jemand, der sich bereits hier, im finsteren Herzen dieses Ortes, befand? Wer wäre besser dazu geeignet als ich?
Also schaute ich weg, wünschte Sara viel Glück und ließ sie ziehen, obwohl ich davon überzeugt war, dass sie ins Verderben ging. Aber weißt du, vielleicht, nur vielleicht, hätte sie es ja schaffen können – allerdings geschah dies in jener Nacht, in der ›Vater‹ Maralini hier auftauchte. Als sie die Straße entlangging, kam er ihr entgegen.
Als er an der Pforte anlangte –
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