ENTWEIHT
den Örtlichkeiten vertraut, nehme ich an. Er kam zu mir und erkundigte sich nach Sara – wie es der Ärmsten gehe? Genauso wie beim letzten Mal, als er sie sah, sagte ich ihm. Sie habe Fieber und sabbere in ihrer Zelle im Westturm stöhnend vor sich hin. Darauf nickte er, so als würde es ihm wirklich etwas ausmachen, und sagte: ›Aye, deine Gebieterin ist nicht gerade freundlich mit ihr umgesprungen.‹ Damit ging er weg – in Richtung des westlichen Turmes.
Ich war neugierig, und wenig später befand ich mich unter dem Westturm und kauerte mich auf die hohe, steinerne Galerie, die über das Meer hinausragt. Von dort aus konnte ich zu dem vergitterten Fenster von Saras Zelle zwei Stockwerke über mir hinaufsehen. Mir kam in den Sinn, in welcher Verfassung sie gewesen war, als ich sie dorthin gebracht hatte. Ich musste sie tragen, und in ihrem sonderbaren Delirium murmelte sie in einem fort vor sich hin:
›Er kam aus dem Nebel. Ich rannte direkt auf ihn zu und bat ihn um Hilfe. Ich hoffte, meine Augen würden ihm nicht auffallen – doch dann sah ich, wie die seinen aussahen! Und als er meinen Kopf festhielt und mich anblickte, spürte ich, wie er mir die Gedanken aus dem Schädel saugte! Ein paar sind mir noch geblieben, allerdings nur ganz schwach, nur ganz schwach. Ich kann mich an dich erinnern, Delia, aber alles andere ist geisterhaft, ich kann es nicht greifen, es löst sich einfach vor mir auf ...‹
Und als ich sie dann auf ihrem Feldbett absetzte, blickte sie mich völlig ausdruckslos an und fragte: ›Was ist das für ein Ort? Wo bin ich?‹ Da wusste ich, dass wir alle des Teufels sind …
Ich befand mich also auf der hohen, steinernen Galerie. Aber wie lange? Nicht lange, glaube ich, dann wurden Kerzen entzündet und ich vernahm unverkennbar seine Stimme, sie klang, als käme sie direkt aus der Hölle – Maralini. Er war bei ihr, aber weshalb? Und diese Stimme: so tief, so leise, so verführerisch. Und dann sein Knurren!
›Was?‹, brüllte er, sodass ich ihn ganz deutlich hörte. ›Du bist aufgestiegen? Du hast einen Egel?‹ Dann lachte er. ›Das wird mein Vergnügen mit dir nur steigern! Erst werde ich mir dich vornehmen, Sara, und anschließend deine Kreatur.‹
Sara schrie auf – es war der Schrei einer Irrsinnigen, er ging einem durch Mark und Bein, oh ja! Ihre Qualen und das Entsetzen hatten sie in den Wahnsinn getrieben . Dabei war Sara immer so stark gewesen, und die größte Stärke bewies sie in jener Nacht.
Was auch immer von ihr noch übrig war – von Sara, der reizenden Schwester, die wir gekannt hatten – wehrte sich und wies Maralinis Annäherungsversuche zurück. Ich hörte, wie ihr Feldbett zusammenbrach, sah im Kerzenschein zwei Schatten miteinander ringen, und erneut kreischte sie auf. Ihr Schrei ging in einem reißenden, zerrenden Geräusch unter, und ich stellte mir vor, dass es Saras Fleisch war, das da zerrissen wurde. Wie sich später herausstellte, lag ich damit richtig.
Und dann …
Ob sie nun gestoßen wurde oder sich mit all der leidenschaftlichen Kraft, die eine Verrückte nur aufbringen kann, aus dem Fenster warf, werden wir wohl niemals erfahren. Doch die Scheibe zerbarst, Sara durchbrach das Gitter, und mit ihrem zerfetzten, um sie flatternden Gewand sah sie aus wie ein Vögelchen mit gebrochenen Flügeln – und das war sie ja auch, das arme Ding. Sara stürzte einfach hinab, kopfüber über die Galerie hinaus, über die Klippen, dem nachtdunklen Meer entgegen. Ihre zerlumpte Gestalt wurde immer kleiner, und dann war sie verschwunden. Und ich gestehe, dass ich dachte, es sei das Beste für sie.
Am nächsten Morgen ließ Vavara mich, noch bevor die Sonne aufging, zu sich rufen. Sie stellte keine einzige Frage nach der vergangenen Nacht – kein Wort über Sara, wie sie entkommen konnte und das alles –, sondern befahl mir, Saras Zelle aufzuräumen. Und dann sagte sie: ›Lass dir, was du dort vorfindest, Delia, eine Lehre sein. Es ist nicht klug, sich mir zu widersetzen, aber es ist äußerst ratsam, Maralini zu widerstehen. Vergiss nicht: Du bist zwar keineswegs eine Schönheit, dennoch hast du viel zu verlieren. Du kannst von Glück sagen, Delia, dass du schon älter bist und nicht mehr so gut aussiehst. Denn die Kluft zwischen Schönheit und Hässlichkeit ist nicht breiter als die Klinge eines Messers, wie du gesehen hast. Und zwischen unansehnlich und grässlich? Ah, das Beste – oder vielmehr Schlimmste –, was ich jemandem antun kann, hast du
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