Entzweit : Vereint (ambi : polar) (German Edition)
weil ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Musste ich lächeln oder sollte ich ernst bleiben? Ich musste eine Grimasse gezogen haben, denn Karim lachte laut auf.
„Entspann dich, Josephine. Sei einfach du selbst und verhalte dich natürlich. Du musst nicht starr sitzen. Erzähl mir von deiner Woche.“ Er richtete ein frisches Blatt Papier auf sein Gestell und holte spezielle Farbe und einen ganz dünnen Pinsel aus seinem Rucksack. „Welches Buch habt ihr diese Woche in der Vorlesung über klassische Literatur besprochen?“, lenkte er mich auf ein unverfängliches Thema, und es machte den Eindruck, als wüsste er, dass es etwas gab, über das ich nicht sprechen wollte und er mich damit ablenken konnte.
Es überraschte mich einerseits, dass er sich daran erinnerte, dass dieser Kurs mein Lieblingskurs war, zum anderen war ich etwas perplex, da er zu spüren schien, dass mich etwas beschäftigte. Karim schien zu Recht ein begnadeter Künstler zu sein, da er anscheinend mehr wahrnahm als nur die Oberfläche eines Menschen. Ich war gespannt, wie mein Portrait aussehen würde.
Ich ging auf seinen Vorschlag ein und erzählte ihm, dass wir diese Woche angefangen hatten, Shakespeares Werke auseinander zu nehmen und Karim überraschte mich erneut, indem er eine Passage aus Othello rezitierte.
Ich musste ihn offen verblüfft angesehen haben, denn er lächelte gequält und gab zu, dass er in seiner Heimat auf einer englischen Schule gewesen war, wo Shakespeares Werke Standardlehrstoff gewesen waren. Wieder einmal fragte ich mich, wie es sein konnte, dass ein so gebildeter Mensch wie Karim hier in Paris keinen anständigen Job bekommen konnte, doch die Antwort lag auf der Hand. Karim war schwarz und illegaler Einwanderer. Da konnte er noch so gebildet sein, er bekam keine Chance, sich zu beweisen. Die Welt war eben ungerecht und wenn man anders war, hatte man es immer schwer.
Karim ließ sich für mein Portrait Zeit. Es waren keine Touristen da, um deren Gunst er hätte buhlen müssen, also nahm er sich Zeit. Ich wusste nicht, ob er sie tatsächlich brauchte, oder ob er einfach nur ein wenig mit mir die Zeit totschlagen wollte. Mir war es einerlei, da ich ja auch nichts weiter vorhatte und so hielt ich zumindest meine Gesichtsmuskeln warm, indem ich ihm meine Theorien zu Shakespeares Werken darlegte.
Karim antwortete nur noch einsilbig, ließ mich reden und konzentrierte sich ganz auf mein Portrait. Zwischendrin hoffte ich, er würde keine Karikatur von mir erstellen, denn ich war nicht wirklich erpicht darauf, mein abartiges inneres Wesen in einer wüsten Karikatur meines Äußeren wiederzuerkennen.
Als Karim nach einer gefühlten Ewigkeit den Pinsel weglegte und verkündete, er sei fertig, da wollte ich es mir gar nicht ansehen. Irgendwie hatte ich Angst davor, zu sehen, was er in mir sah.
Ich blieb unschlüssig sitzen und biss mir auf die Unterlippe. „Wie wäre es jetzt mit einem wärmenden Kaffee?“, fragte ich, um abzulenken und sah mich auf dem Platz um.
„Sieh es dir an“, sagte Karim lächelnd und winkte mich zu sich.
„Ich weiß nicht“, gab ich zögernd meine Unsicherheit zu und blieb, wo ich war.
„Na, komm schon“, drängte er mich sanft.
Langsam stand ich auf und ging um ihn und seine Staffelei herum und als ich den ersten Blick auf mein Selbstbildnis wagte, da entfuhr mir ein verblüffter Ausruf.
Karim hatte mich gut getroffen. Beängstigend gut. Ich wirkte geheimnisvoll auf dem Portrait. Irgendwie nicht greifbar, so als würde der erste Eindruck von mir etwas verbergen, das tiefer verborgen lag. Das war fast gespenstisch und doch so real. Und er hatte seine künstlerische Freiheit benutzt, um Details zu zeichnen, die so in der Realität gar nicht zu sehen gewesen waren. Zum Beispiel hatte er mein Haar offen gemalt, obwohl ich es wie immer zu einem wirren Knäuel zusammengebunden im Nacken trug. Doch auf dem Bild schwangen meine schulterlangen, dunkelbraunen Haare in großen Locken ungeordnet und wirr um mein Gesicht, und damit hatte er, was den natürlichen Fall meiner Locken anging, die Realität absolut passend getroffen, obwohl er eigentlich gar nicht wissen konnte, dass ich solche Locken hatte, da ich mein Haar ja stets streng hinten am Kopf zusammenhielt.
Und dann meine Augen. Die waren der Hammer. Tiefblau und unergründlich, aber was das Verblüffendste war, man erkannte darin die Melancholie, die ich eben empfunden hatte. Das war Karim also nicht entgangen, obwohl ich
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