Enwor 1 - Der wandernde Wald
ein paar Tropfen Wasser aufsaugt. Del folgte ihm wenige Sekunden später etwas langsamer. Seine verwundete Schulter zwang ihm ein mäßigeres Tempo auf. Einen Moment lang blieben sie geduckt nebeneinander stehen, sahen sich aufmerksam um und huschten dann lautlos über den Weg. Der Wald war nicht so dicht, wie es von oben den Anschein gehabt hatte. Die Bäume standen fast auf Manneslänge auseinander, und es gab überraschend wenig Unterholz. Eigentlich, verbesserte sich Skar in Gedanken, gar keines, wenn man von einigen wenigen, für einen natürlichen Bewuchs schon fast zu regelmäßig stehenden Büschen absah. Er ließ sich auf das rechte Knie niedersinken, fuhr mit den Fingerspitzen über den moosbedeckten Boden und stand vorsichtig wieder auf. Der Wald gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht.
Neben ihm ließ sich Del schweratmend gegen einen Baum sinken. Sekundenlang starrte er aus roten, entzündeten Augen vor sich hin, dann verkrallte er die Linke in einen tiefhängenden Ast, riß ein Büschel Blätter ab und stopfte es in den Mund. Er schmatzte genüßlich und verzog das Gesicht, als hätte er niemals etwas Köstlicheres gegessen. Dann hustete er, krümmte sich zusammen und übergab sich würgend.
Skar schüttelte mißbilligend den Kopf. »Du solltest das lassen«, sagte er lakonisch. »Irgendwo hier muß es Wasser geben. Komm.«
Nebeneinander drangen sie in den Wald ein. Hinter ihnen blieben die nächtliche Wüste und ihre Stille zurück, aber dafür schienen sie plötzlich von einer anderen Art des Schweigens umgeben. Der Wald war erfüllt von Geräuschen — das Knacken von Ästen, ein dumpfes Rauschen und Heulen, mit dem sich die mächtigen Baumkronen der Kraft des Windes beugten, die vielfältigen Geräusche der Tiere, die in dieser schattigen Oase lebten — aber im gleichen Maße, in dem sie weiter in den Wald vordrangen, schienen die Laute vor ihnen zu erlöschen, als marschiere mit ihnen ein unsichtbarer Keil des Schweigens, eine dunkle, unsichtbare Schleppe, das Schweigen der Wüste, das sie gleich einem anstekkenden schleichenden Gift in ihre Körper aufgenommen hatten und nun in diesen stillen, friedlichen Wald hineintrugen. Mehr als alles andere machte dieser sonderbare, sicher nur in seiner Einbildung stattfindende Effekt Skar deutlich, daß sie Fremde waren, Eindringlinge, unwillkommene Eindringlinge dazu, die in diesem Wald nichts zu suchen hatten.
Er schüttelte unwillig den Kopf, um die bedrückenden Gedanken zu verscheuchen, und konzentrierte sich ganz auf seine Umgebung. Ihm fiel auf, wie regelmäßig die Bäume wuchsen. Es gab keinen Weg oder Pfad, aber sie kamen trotzdem gut voran. Die Bäume standen in präzisen, schräg gegeneinander versetzten Reihen, die wie die Linien eines tiefgestaffelten natürlichen Zaunes wirkten und zwischen denen genügend Platz zum Durchkommen blieb. Und noch etwas fiel ihm auf. Die Bäume wuchsen nicht nur regelmäßig, sondern sie glichen einander auch auf verblüffende Weise. Die Stämme waren gerade, sauber und makellos. Sie waren gesund, alle. Es gab keine verkrüppelten Äste, keine zerborstenen Wurzeln oder abgestorbenen Zweige, keine Stämme, die Wind und Jahreszeiten erlegen oder vom Blitz gespalten waren. Dieser Wald, das begriff er mit einem Male, war kein Wald, sondern ein Park, sorgfältig gehegt und behütet und von unvorstellbarer Größe.
Del blieb plötzlich stehen. »Wasser«, keuchte er atemlos.
Vor ihnen schimmerte es hell durch die Baumreihen. Skar hörte ein leises Plätschern, dann brachte ein Windstoß den unbeschreiblichen Geruch von Wasser mit sich.
Sie rannten los. Selbst Skar vergaß alle Vorsicht. Nach allem, was hinter ihnen lag, gab es keine Zeit mehr für Mißtrauen oder Angst. Dort vorne war Wasser. Wasser! Dann lag der See vor ihnen — ein flacher, runder Tümpel voller grünem Wasser, das zum Himmel stank und unter dessen Oberfläche es von schleimigem Leben wimmelte. Aber davon sahen weder Skar noch Del etwas. Sie brachen aus dem Wald, schleuderten ihre Waffen im hohen Bogen von sich und warfen sich kopfüber in den Schlamm.
Sar löste mit spitzen Fingern den Verband von Dels linker Schulter und betrachtete kopfschüttelnd die Wunde. Sie sah nicht gut aus. Der Axthieb hatte das Schulterblatt zwar nicht gespalten, aber die Klinge hatte den Knochen gebrochen, war daran abgeglitten und eine Handbreit tief ins Fleisch gedrungen, so daß ein fast handtellergroßer Fleischlappen gelöst worden und die Wunde brandig und
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