Enwor 11 - Das elfte Buch
herüber.
Es war ein seltsamer Anblick. Sie war sehr groß für eine junge Frau, fast so groß wie er selbst, aber von schlankem, fast zerbrechlich anmutendem Wuchs. Es war gleichzeitig eine Trauer und eine Erregung in ihr, ein Mischmasch verschiedener Gefühle, die er nicht zu deuten verstand.
»Es ist… nichts«, sagte sie. »Ich muss nur lernen, dass alles irgendwann ein Ende hat.« Sie lachte humorlos auf. »Mein Leben ist zu Ende, weißt du das? Es war in dem Moment zu Ende, als du gesagt hast, dass du Geräusche hörst — Geräusche, wie sie nur von heranschleichenden Quorrl stammen konnten. Und dann…« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum dir mein Vater nicht glauben wollte. Vielleicht hätte es keinen Unterschied mehr gemacht. Vielleicht hätten uns die Quorrl dennoch überrannt. Aber… wir hätten wenigstens eine Chance gehabt!«
Skar sagte nichts darauf. Auf vor Erschöpfung unsicheren Beinen ging er zu dem herüber, was ihr gemeinsames Lager sein sollte. Es gab keine Worte, die sie jetzt erreichen würden, nicht wirklich. Er hätte ihr etwas davon erzählen können, dass jedes Ende auch einen neuen Anfang in sich barg. Er hätte ihr von anderen Schicksalen berichten können, von Männern und Frauen, die nach verheerenden Schlägen wieder zu neuer Kraft gefunden hatten. Aber nichts von alldem war wirklich wahr, weil das alles nicht Esanna betraf und den Schmerz über einen Verlust, dessen ganze Bedeutung sie erst in ein paar Wochen, vielleicht sogar erst in ein paar Monaten erfassen würde — wenn sie selbst noch so lange lebte.
Er ließ sich auf dem Laub nieder, lehnte sich an den moosbewachsenen Felsen und starrte in den Regen hinaus. Nach all der Hetze, all dem Töten, all dem Verwirrenden, das ihn in einen alles vernichtenden Strudel hatte ziehen wollen, kam ihm dieser Augenblick fast wie eine Erlösung vor. Es war eine Gelöstheit in ihm, ein leichtes Schweben, so als würde er sich trennen und befreien von dem, was Kama eine Verantwortung genannt hatte und was für ihn nur eine Last war, die ihn zu erdrücken drohte.
Die Zeit hatte scheinbar aufgehört zu existieren. Er hätte später nicht mehr zu sagen vermocht, wie lange Esanna noch so vor ihm gestanden hatte, durchsichtig fast in ihrem Schmerz, so als wäre sie gar nicht mehr von dieser Welt. Er hätte nicht sagen können, wie lange sein Blick auf ihr geruht hatte, um dann wieder hinabzuwandern, die Anhöhe hinunter, die sie weiter und immer weiter führen würde, bis sie Mama, den Satai mit der Goldmaske, erreichten und dann das tun würden, was auch immer getan werden musste — vereint wieder mit Kama, der so sicher zu ihnen stoßen würde, wie er Esanna jetzt sah, als sie langsam auf ihn zukam, um sich neben ihm niederzulassen, Seite an Seite mit ihm und mit angewinkelten Knien.
»Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll«, sagte sie. Sie sah blass aus, gefangen in tiefer Trauer, aber auch auf eine erschreckende Weise erwachsen und selbstbewusst.
»Ich auch nicht«, sagte Skar leise. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, was mich erwartet.«
Esanna schwieg lange und tausende von Tropfen gingen währenddessen nieder, benetzten die Erde, ganz leise und fast vorsichtig prasselnd, mehr ein Nieseln als ein ausgewachsener Regen. »Ich bin so entsetzlich müde«, sagte sie. »Ich weiß«:, sagte Skar, »es ist eine Müdigkeit, die viel tiefer geht als alles, was nur durch zu wenig Schlaf entstehen kann…«
Nach einer Zeit, die nur eine Ewigkeit sein konnte, wandte Esanna den Kopf zu ihm um und er hatte das Gefühl, als betrachte sie ihn so intensiv, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Wie alt bist du?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, murmelte Skar und dachte an den Wächter. Es war nicht so, dass er es jemals wirklich verstanden hatte. Er war der Wächter gewesen — oder der Erbe des Wächters; derjenige, der über Enwor wachen sollte und es doch nur sehr unvollkommen tat. Er war Ewigkeit und doch so sterblich, wie man nur sein konnte. Er hatte die Unsterblichkeit angeboten bekommen und sie ausgeschlagen — vielleicht hatte er sie gerade dadurch gewonnen.
»Das ist keine Antwort«, sagte Esanna sachte.
»Nein, das ist es nicht«, antwortete er. »Aber es ist die Wahrheit. Ich habe es vergessen…«
»Wie meinst du das?«, fragte Esanna nach der nächsten Ewigkeit mit diesem ewigen Prasseln des leichten Regens, der keinen Anfang und kein Ende
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