Enwor 11 - Das elfte Buch
sondern das, was er war.
Roun geleitete ihn zu einem Gebäude, das sich zusammen mit einem halben Dutzend anderer um einen halbkreisförmigen Platz im Zentrum des Dorfes gruppierte und vielleicht nicht das größte, aber eindeutig eines der besseren Häuser hier war — trotzdem war es eine ärmliche Hütte. Das roh errichtete Fachwerk war mit Stroh und Lehm ver-füllt und das Dach mit Schindeln gedeckt, die mit sehr viel mehr gutem Willen als Können aus der Rinde eines Baumes herausgeschnitten worden waren. Als Skar absaß und das Haus betrat, kamen ihm eine junge Frau und zwei Kinder von kaum zehn Jahren entgegen.
»Deine Familie?«, fragte er.
Roun wartete, bis die Frau und die beiden Jungen außer Hörweite waren, ehe er nickte und seine einladende Geste wiederholte. »Meine Frau und meine beiden Söhne, ja. Aber sie werden Euch nicht zur Last fallen. Das Haus gehört Euch, solange Ihr unser Gast seid.«
»Und wenn ich mich entschließe zu bleiben?«
Roun ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei und öffnete die Läden vor den Fenstern, ehe er antwortete. »Dann würde es Euch gehören, wenn Ihr es wünscht, Hoher Herr. Doch es gibt bessere Häuser hier. Wir könnten eine angemessene Unterkunft für Euch errichten.« Er drehte sich herum, lehnte sich gegen die Wand neben eines der beiden Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber Ihr werdet nicht hier bleiben, nicht wahr?«
Skar schloss die Tür und sah sich um — obwohl es wahrlich nicht viel zu sehen gab. Das Innere des Hauses ent-sprach vollkommen seinem äußeren Erscheinungsbild: Es war ärmlich. Der Boden bestand aus festgestampftem Lehm, in dem sich hier und da tiefe, zum Teil noch frische Kratzspuren zeigten; vermutlich von den Kindern im Spiel hinterlassen. Die Möbel mussten von dem gleichen wenig talentierten Handwerker angefertigt worden sein wie das Dach, und auch sie waren sehr armselig. Es gab einen Tisch, vier Stühle, eine offene Feuerstelle und ein Regal, das war alles. In der gegenüberliegenden Wand war eine niedrige, äußerst massive Tür, die ein wenig schief in den Angeln hing.
»Bitte urteilt nicht vorschnell, Hoher Herr«, sagte Roun. Skars Blick war ihm nicht entgangen und ganz offensichtlich war ihm der Eindruck peinlich, den seine Behausung hinterlassen musste. »Wir sind noch nicht lange hier.«
»Und ihr habt auch nicht vor lange zu bleiben«, vermutete Skar. Er wusste, wie hart und vor allem lang die Winter in diesem Teil des Landes waren. Dieses Haus machte nicht den Eindruck, als ob es einen solchen Winter überstehen konnte. So wenig übrigens wie der Rest des Ortes. Er hob die Hand, als Roun antworten wollte, und fügte in verändertem Tonfall hinzu: »Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich tue. Im Moment bin ich einfach nur müde — und ein wenig hungrig. Könntest du mir etwas zu essen besorgen?«
»Selbstverständlich, Hoher Herr.«
»Und hör auf, mich ständig
Hoher Herr
zu nennen«, fügte Skar hinzu. »Ich habe einen Namen.«
Roun senkte den Blick und begann wie ein gescholtenes Kind mit den Füßen zu scharren. »Natürlich, Hoher…
Ska.
Verzeiht. Es ist nur… hier nicht üblich, einen Satai mit Namen anzusprechen.«
»Da, wo ich herkomme, schon«, murmelte Skar. Er machte zwei Schritte auf den Tisch zu, blieb dann wieder stehen und maß die Schemel davor mit einem so eindeuti-gen Blick, dass Roun hastig auf die Tür deutete und sagte: »Die Betten sind nebenan. Sie sind nicht luxuriös, aber bequemer als der Boden.«
Wenn Roun sie wie den Rest der Möblierung selbst gebaut hatte, dann bezweifelte Skar das. Er ersparte sich jedoch eine entsprechende Bemerkung, sondern ließ sich mit einem demonstrativ müden Seufzen am Tisch nieder und sah an seinem Gastgeber vorbei aus dem Fenster. Roun verstand und beeilte sich das Haus zu verlassen und die Tür hinter sich zuzuziehen. Trotzdem konnte Skar erkennen, dass sich in den wenigen Augenblicken seit ihrer Ankunft ein regelrechter Aufruhr vor dem Haus gebildet hatte. Der Anblick eines Satai gehörte hier offensichtlich nicht zum Tagesgeschehen.
Skar war froh einen Moment allein zu sein. Er hatte nicht einmal gelogen, als er behauptet hatte zu müde und zu hungrig zu sein, um eine Entscheidung zu treffen. Er hatte Antworten haben wollen, aber gefunden hatte er nur neue Fragen.
Was ihn am meisten verwirrte, war seine eigene Reaktion.
Er hatte nicht reagiert, wie er erwartet hatte. Er hatte überhaupt nicht so gehandelt, wie er
es
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