Enwor 7 - Das schweigende Netz
fliehen, wahrscheinlich aus Hunger und Durst.«
Titch nickte widerstrebend. »Worauf willst du hinaus?«
»Daß sie schon lange hier war«, antwortete Skar. »Tage, vielleicht Wochen, sicher aber ebensolange wie wir, Titch. Sie hat es nicht gewagt, ihr Versteck zu verlassen, um zum Fluß zu gehen oder sich ein Wild zu jagen, aus Angst, entdeckt zu werden.«
Titch blickte ihn an, aber sein Gesicht war jetzt wieder ein ganz normales Quorrl-Gesicht — eine häßliche Fratze aus Schuppen und Knochenwülsten, auf der nicht das allermindeste Gefühl abzulesen war.
»Du meinst, sie hat hier
auf uns
gewartet?« fragte er.
»Oder auf jemand anderen.«
»Die Drachenreiter, die das Mädchen verfolgten?«
»Möglich.« Skar stand auf. Es
war
möglich, aber er war eigentlich überzeugt davon, daß es nicht so war.
Aber was hatte sie dann hier gewollt? Was war in der Flasche gewesen, und warum hatte der Daij-Djan sie getötet, wenn sie —
- nicht ihr Feind gewesen war?
Die Erkenntnis traf ihn mit solcher Wucht, daß er Titch volle zehn Sekunden lang aus aufgerissenen Augen anstarrte, ohne einen Laut, ja, ohne auch nur zu atmen. Es war die einzige Erklärung. Sie klang fast absurd, aber alles andere ergab noch weniger Sinn. Plötzlich glaubte er die Szene noch einmal zu durchleben, schneller und mit fast übernatürlicher Klarheit:
Er sah die Tote, reglos auf dem Rücken der Daktyle, sah den Ausdruck ungläubigen Entsetzens in ihrem für immer erstarrten Gesicht, und er sah den Daij-Djan, die Sternenbestie, die dastand und ihn aus ihrem schrecklichen augenlosen Gesicht anstarrte, die Hand wie zu einem perfiden Gruß erhoben, aber das stimmte nicht, es war kein
Gruß, es war ein Deuten auf die tote Errish und ihren Vogel, und es bedeutete nichts anderes als dies: Sieh sie dir an, Satai! Sieh dir an, was denen geschieht, die sich mir in den Weg gestellt haben!
»Titch«, flüsterte er. »Wir waren Narren! Diese
Errish
war nicht unser Feind!«
»Was?« fragte Titch verstört.
»Ich weiß nicht, wieso, und ich weiß nicht, was sie hier wollte, aber sie stand auf unserer Seite, Titch!« drängte Skar erregt.
»Begreif doch! Wir haben uns getäuscht, aber Bradburn muß es erkannt haben, in seinem letzten Moment! Was in ihrer Flasche war, war kein Gift! Es war
eine Waffe gegen das Netz!«
Titchs Augen weiteten sich ungläubig, aber es vergingen Sekunden, bis Skar erkannte, daß dies keine Reaktion auf seine Worte waren. Der Quorrl starrte auf einen Punkt hinter ihm, am anderen Ende der kleinen Felsplattform.
Und Skar wußte schon, was er dort gesehen hatte, noch ehe die anderen Quorrl entsetzt aufschrien und er selbst in die Höhe fuhr und sich blitzschnell umdrehte.
Er war da.
Es
war
eine getreuliche Wiederholung ihrer ersten Begegnung, und er hatte recht gehabt, mit seinem eigenen, spöttischen Gedanken — der
Daij-Djan
hatte auf sie gewartet, hier, an der einzigen Stelle, an der es vielleicht etwas gab, was seine Pläne zu durchkreuzen vermochte.
Für die Dauer eines Atemzuges stand Skar einfach da und starrte die kindsgroße Chimäre an, spürte den Blick seiner nicht vorhandenen Augen wie die Berührung einer weißglühenden Hand und fühlte wieder den alten Spott und Haß, aber zum allerersten Mal vielleicht auch so etwas wie Verunsicherung.
Dann bewegte sich der
Daij-Djan.
Und die Hölle brach los.
Skar hörte einen gellenden Aufschrei und wurde von etwas in den Rücken getroffen und zur Seite geschleudert. Ein Quorrl raste an ihm vorbei, brüllend, das gewaltige Schwert mit beiden Händen zum Schlag erhoben, und so schnell, wie er niemals einen Quorrl hatte laufen sehen.
Der
Daij-Djan
versuchte nicht einmal, dem Hieb auszuweichen. Er stand einfach da, ein Kind, das einem tobenden Drachen entgegenblickte, und die Klinge des Quorrl sauste herab, geführt von Muskeln, die in der Lage waren, einem Pferd das Rückgrat zu brechen. Der Hieb mußte ihn in zwei Hälften teilen.
Er wurde nicht zweigeteilt. Er erbebte nicht einmal unter dem Schlag des Quorrl-Kriegers. Aber dafür zerbrach dessen Schwert. Dann bewegte sich die dreifingrige Klauenhand des
Daij-Djan, so
schnell und mörderisch, wie sie nur dieses Wesen bewegen konnte, und der Quorrl torkelte röchelnd zurück, beide Hände gegen seine zerfetzte Kehle geschlagen.
Der
Daij-Djan
löste sich aus seiner Erstarrung und kam langsam auf Skar und Titch zu. Seine Hände waren jetzt geöffnet, wie dreifingrige Forken, zu nichts anderem geschaffen als zum
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