Enwor 8 - Der flüsternde Turm
schlief ein.
E s war absurd, aber das erste, was ihm bewußt wurde, war, daß es zu regnen aufgehört hatte. Das Prasseln und Plätschern des Regens, das ihnen in den letzten beiden Tagen und Nächten zu einem so beständigen Begleiter geworden war, daß er es schon gar nicht mehr wahrgenommen hatte, war verstummt, und in der Luft lag ein warmer, noch immer ein wenig feuchter Hauch. Sonnenlicht kitzelte sein Gesicht, und Skar registrierte mit einem Gefühl wohliger Behaglichkeit, daß er zum ersten Mal seit Tagen wieder am ganzen Leib
trocken
war; ein Luxus, den man wie vieles erst dann richtig zu schätzen wußte, wenn man ihn nicht mehr hatte. Erst dann erwachte er wirklich.
Er lag auf einem Bett in einer kleinen, aber sehr behaglich eingerichteten Hütte, nackt und nur mit einer dünnen Decke aus bunten Stoff flicken zugedeckt, und er spürte, daß er nicht allein war, noch bevor er den Kopf drehte und die Gestalt auf dem Stuhl neben sich bemerkte.
Die
Errish
war sehr alt — sechzig, vielleicht siebzig Jahre, möglicherweise auch noch sehr viel älter, denn die
Ehrwürdigen Frauen
vermochten ihr Leben zu verlängern, auch wenn sie es nicht immer taten. Ihr Gesicht war schmal und von Falten durchzogen, das Gesicht eines sehr alten Menschen, das aber kein bißchen gebrechlich wirkte, sondern im Gegenteil trotz seines Alters energisch und sehr bestimmend. Ihre Augen waren klar und fast schon erschrek-kend wach, und ihre Hände, die das einzige waren, was außer dem Antlitz unter dem groben schwarzen Stoff ihres Mantels sichtbar wurde, waren so dürr und knochig wie Vogelklauen. Trotzdem wirkte sie nicht abstoßend, sondern eher bizarr; gar nicht mehr wie ein Mensch, sondern schon fast wie ein Wesen einer anderen Gattung, als wäre sie nicht einfach älter geworden, sondern hätte sich gleichzeitig
verändert.
Aber es war nichts Beunruhigendes an dieser Veränderung.
»Bist du... Yul?« fragte Skar. Er erschrak ein wenig, als er hörte, wie fremd und schwach seine eigene Stimme klang. Sie zitterte.
Das Sprechen tat seinem Hals weh.
Die alte Frau nickte.
»Und du Skar.« Sie legte den Kopf schräg und betrachtete interessiert sein Gesicht, obwohl sie Stunden Zeit gehabt haben mußte, dies zu tun. »Du bist zu jung«, stellte sie schließlich fest. Skar blickte fragend, und Yul fuhr mit einer erklärenden Handbewegung fort: »Oh, keine Sorge, ich weiß, daß du der bist, als den Anschi und Gowennas Tochter dich vorgestellt haben. Ich kenne dich, weißt du?«
»Nein.« Skar schüttelte den Kopf und stemmte sich in eine halb sitzende, halb noch immer liegende Position hoch. Es fiel ihm schwer. Seine Arme schienen keine Kraft mehr zu haben, und hinter seiner Stirn war noch immer ein ganz sachtes Schwindelgefühl. »Woher auch?«
»Ich war in Elay«, erklärte Yul. »Damals, als du zusammen mit Gowenna von den Eisinseln zurückgekehrt bist.« Ihre dünnen gesprungenen Lippen verzogen sich zu einem wissenden Lächeln, als sie Skars Verwirrung bemerkte. »Oh, ich habe ein wenig anders ausgesehen, damals. Und wahrscheinlich hast du mich überhaupt nicht bemerkt. Du hattest ja nur Augen für Gowenna. Aber
ich
habe
dich
sehr wohl bemerkt. Du warst schon immer ein stattlicher Mann.« Ihr Blick wurde fragend. »Du bist es immer noch. Wüßte ich nicht, daß es unmöglich ist, dann würde ich sagen, daß du keinen Tag älter geworden bist, seit damals.«
»Aber es ist unmöglich, nicht wahr?« antwortete Skar. »Schließlich wissen wir das beide.«
Wissen wir das wirklich?
fragte Yuls Blick. Aber sie sprach es nicht laut aus, sondern machte eine Handbewegung, die wohl andeuten sollte, daß sie das Thema für den Moment als beendet betrachtete. »Fühlst du dich besser?«
Skar fühlte sich in der Tat besser als am vergangenen Abend.
Sein Zustand war mit dem, als er das Lager erreicht hatte, nicht zu vergleichen. Er fühlte sich zwar noch immer ein wenig matt, aber es war nur die Müdigkeit, die der Schlaf hinterlassen hatte, nicht mehr diese entsetzliche saugende Schwäche, die ihn auf dem Rük-ken der Daktyle überfallen hatte. Selbst seine verletzte Rippe schmerzte kaum mehr.
Vorsichtig setzte er sich auf, griff hastig nach der Decke, die von seinem Schoß rutschen wollte, und sah betreten an sich herab, als er Yuls spöttisches Lächeln bemerkte. Erst dann fiel ihm auf, daß der Verband verschwunden war, den Anschi über seine gebrochene Rippe gelegt hatte.
»Sie ist geheilt«, antwortete Yul auf die
Weitere Kostenlose Bücher