EONA - Das letzte Drachenauge
Rachen.
»Bleibt, mein Bruder, und trinkt einen Kelch Wein«, sagte Sethon zu Haio.
Die beiden Diener und der Wächter führten Vida und mich an der linken Wand entlang; es war nicht mehr nötig, uns durch die Mitte zwischen den Tischen abgehen zu lassen. Vidas Gesicht war weiß und starr, ein Spiegelbild meines eigenen Entsetzens. Ich berührte ihre Hand, doch sie wachte nicht auf aus ihrem unheimlichen erstarrten Blick.
Wir konnten es uns nicht leisten, uns von der Angst überwältigen zu lassen, wir mussten uns fangen, und zwar schnell, wenn wir nicht in Sethons Gemächern enden und ihm ausgeliefert sein wollten. Unbarmherzig kniff ich Vida in den Arm. Ihre Lider flatterten, und ihre Augen nahmen die Umgebung wieder wahr. Sie hatte also – den Göttern sei Dank! – nicht den Verstand verloren. Allein konnte ich zwei Eunuchen und einen Wächter nicht abwehren, doch zusammen hatten wir eine Chance.
Viele Offiziere drehten sich zu uns um, als wir vorbeigingen, und ihre herzlose Belustigung ließ mich erneut frösteln. Einige Männer allerdings blickten grimmig drein und pressten die Lippen voll Mitleid zusammen. Vielleicht hatten diese Männer Frauen und Töchter.
Auf den Stufen vor dem Gebäude nahm ich Vidas Hand. Unser Wächter bemerkte es, doch er unterband mein weibliches Bedürfnis nach Trost nicht. Wir waren ja nur Blütenfrauen und unbewaffnet. Er hingegen hatte ein Messer und ein Schwert und trug eine Lederrüstung. Ganz langsam drehte ich meine Hand in Vidas Hand hinein: das Zeichen für Angriff . Sie drückte meine Finger: Bereit .
Aber wo sollten wir unseren Versuch wagen? Ich grub in meinem Hirn nach dem Grundriss des Palastes. Der wahrscheinlichste Weg zu den Kaisergemächern führte über den breiten Gang längs der Haremsmauer. Also gab es für uns nur an einem Ort eine Fluchtmöglichkeit: in dem kleinen Durchgang zwischen dem Harem und der Mauer des Westtempels. Ich machte Vida in ihrer feuchtkalten Hand das Zeichen für Warten und sie stimmte mit einem kurzen Drücken zu.
Rasch und geschäftsmäßig gingen die beiden Eunuchen in ihren weichen Schlupfschuhen vor uns her. Meine Vermutung war richtig: Sie führten uns Richtung Haremsmauer. Der Jüngere mit der Narbe im Gesicht sah sich mit gerunzelter Stirn unbehaglich zu uns um. Ahnte er etwas von unseren Plänen? Oder setzte ihm bloß seine Aufgabe zu? Ich ließ meinen Blick über den Hof gleiten und bemerkte die Soldaten an der Ecke eines jeden Gebäudes. Eine aufblitzende Bewegung lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine große Löwenstatue, die einen Durchgang bewachte. Bewegte sich ihr Schatten oder war das nur meine Wunschvorstellung? Wir waren so schnell vorbei, dass ich mich nicht vergewissern konnte.
Wir bogen nach rechts in den breiten Gang und ich sah die Zerstörung, die Ido bei seinem Staatsstreich angerichtet hatte. Aufgestapelte Ziegel und Trümmer kennzeichneten die Lücke in der Haremsmauer und ich zählte mindestens vier darum herum postierte Soldaten. Waren sie so nah, dass sie einen Kampf in dem Durchgang bemerken würden? Egal – wir mussten es wagen!
Vida tippte an meine Hand und wies mit den Augen auf unseren Wächter, ihr Angriffsziel. Ich schüttelte fast unmerklich den Kopf und schob die Laute vor meiner Brust zurecht; es war das Einzige, was einer Waffe nahekam. Es wäre sinnvoller, wenn ich den Bewaffneten angreifen würde. Obwohl sie störrisch das Kinn reckte, gab sie mit leisem Ausatmen nach.
Vor uns machte die Mauer des Westtempels einen rechtwinkligen Knick und verlief – wie ich es in Erinnerung hatte – parallel zum Harem, bildete mit dessen Mauer einen düsteren Durchgang, dessen dunkle Biegung ideal war für einen Angriff. Mein Rücken kribbelte wegen des Soldaten hinter mir und wegen der Last der nächsten Minute.
Das Überraschungsmoment, heißt es bei Xsu-Ree, ist viel wichtiger, als dem Gegner zahlenmäßig überlegen zu sein. Als der Gang sich verengte, fasste ich die Laute immer fester um den Hals und drückte Vidas Hand erneut: Bereit .
Als die Eunuchen um die Biegung gingen, fasste ich den Hals der Laute mit beiden Händen und schwang den Klangkörper gegen den Kopf des Soldaten. Er traf den Mann am Kiefer und das lackierte Holz splitterte mit einem misstönenden Akkord. Der Soldat taumelte rückwärts gegen die Tempelwand. Vida schlug den älteren Eunuchen mit einem Kinnhaken zu Boden und packte den jüngeren bei seinem Zopf. Er rammte ihr den Ellbogen in den Magen, und zusammen stolperten sie
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