EONA - Das letzte Drachenauge
dort sind Soldaten postiert«, sagte Dela.
»Kaisergemächer«, flüsterte der junge Eunuch.
Mit einem Ruck hielt Vida ihm das Messer dichter an die Kehle. »Maul halten.«
Dela ging zu ihm hin. »Warum sagst du das?«
Er hob das Kinn. »Blütenfrauen werden ständig zu den Kaisergemächern gebracht. Aber sie gehen nie in den Küchenbereich.«
»Warum schlägst du das vor?«
»Ich bin schon so gut wie tot«, sagte er mit einem Blick auf das Messer. »Wenn Ihr mich nicht umbringt, dann wird Seine Majestät es tun, und zwar nicht so schnell.« Sein rundes Gesicht verhärtete sich. »Wenn ich schon sterben muss, dann sollen wenigstens nicht noch zwei Menschen seinen kranken Gelüsten zum Opfer fallen.«
»Er hat recht«, sagte Dela. »Die Kaisergemächer sind näher, und die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Wächter täuschen können, ist größer.«
»Nehmt mich mit«, bat der Eunuch hastig. »Das wirkt glaubwürdiger.«
Vida beugte sich vor. »Du willst bloß um Hilfe rufen.«
»Nein! Bitte nehmt mich mit. Ich kann hier nicht bleiben.«
Dela musterte ihn scharf. »Gut, wir nehmen dich mit.« Sie unterband Vidas Protest, indem sie die Hand hob. »Aber du hast es selbst gesagt: Sethon tötet dich so gewiss, wie ich den nächsten Atemzug tue. Wir sind deine Überlebenschance; also tu, was wir dir sagen.«
»Und ich drücke dir dieses Messer die ganze Zeit in den Rücken«, setzte Vida hinzu.
Ich erinnerte mich an den Ausdruck des Mitgefühls in der Miene des jungen Mannes, als er mich zu seinem königlichen Herrn geführt hatte, und plötzlich kam mir ein finsterer Verdacht: Sethon beschränkte sich nicht auf Blütenfrauen. »Du wirst uns nicht verraten, nicht wahr?«, fragte ich den Eunuchen.
Er hielt meinem wissenden Blick stand. »Nein.«
Vida schnaubte ungläubig. Ich richtete mich auf und lehnte mich an die Mauer. »Wo sind Ryko und Yuso?«
Dela, die dem toten Wächter gerade den Helm vom Kopf zog, sah düster auf. »Ich habe gesehen, wie zwei Soldaten bei ihrem Würfelspiel eingestiegen sind.« Sie bückte sich, um seine Lederweste aufzubinden. »Wenn sie die loswerden können, wissen sie, wo sie uns finden.«
Der Glücksgott spielte nach seinen eigenen Regeln. Ich sammelte meine Kräfte und stieß mich von der Mauer ab. Die Welt schwankte und drehte sich und dann war wieder alles grau. Immerhin kam der Nebel nicht zurück. Ich hielt meinen Arm schützend an den Brustkorb und drückte noch immer auf die nasse, pochende Wunde.
Mit leisem Ächzen zog Dela dem Toten die Weste über den Kopf. Als er wieder gegen die Mauer sackte, musste ich daran denken, wie Yuso das Schwert aus Leutnant Haddos Brust gezogen hatte, und mir wurde übel. Mich fröstelte, aber das kam nicht nur vom Schrecken. Mir war heiß und kalt zugleich.
Dela streifte sich die Weste über und schnürte sie an den Seiten. Obwohl sie es hasste, sich als Mann zu kleiden, gab sie einen überzeugenden Soldaten ab. In Männersachen bewegte sie sich stets rascher und bestimmter und die ganze weibliche Selbstbeherrschung und Anmut waren verschwunden.
Sie blickte an den Mauern zu beiden Seiten hinauf, die oben mit schrägen Ziegeln gedeckt waren. »Zu hoch, um die Leichen drüberzuwerfen«, sagte sie und schob ihr eingefettetes Haar unter den Helm. »Wir müssen sie liegen lassen, aber man wird sie bald finden.« Sie hob das Schwert auf. »Fertig?«
Ich nickte und trat neben Vida. Schon bei dieser einfachen Bewegung wurde mir erneut übel. Zwar vertrieb ein tiefer Atemzug den Brechreiz, doch frisches Blut sickerte durch den Verband und tropfte von meinen Fingern. Ich legte den gesunden Arm über die Wunde; mein breiter Seidenärmel würde das meiste Blut verbergen. Hoffentlich würde ich keine Blutspur hinter mir herziehen.
Vida hielt das Messer hinter dem Eunuchen gezückt und hatte sich das Ende seiner Schärpe um die andere Hand gewickelt. Sie lächelte mir beruhigend zu und stupste ihn zwischen die Schulterblätter.
»Geh ganz normal«, befahl sie.
Ich hörte, wie er flüsternd ein Gebet sprach. Dann ging er los und führte uns aus dem schützenden Halbdunkel.
Wir bogen um die Haremsmauer und vor uns erhoben sich in Rot und Gold die beiden gewaltigen Paläste der Kaisergemächer. Jeder Palast war auf einem Marmorsockel errichtet, dessen Treppe von zwei vergoldeten Löwen bewacht wurde. Schwere Kohlebecken aus Messing standen zu beiden Seiten der Stufen und bildeten zwei majestätische Lichtpfade zu den gleich gestalteten Portikos
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