EONA - Das letzte Drachenauge
und versperrte ihm mit meinem Körper die Sicht.
Mit einer Verbeugung entfernte er sich. Ich folgte ihm und widerstand dem Drang, mich umzublicken. Der Wächter bezog wieder Stellung vor Idos Gefängnis. Obwohl ich eigentlich hatte vorbeigehen wollen, blieb ich unwillkürlich vor der Holztür stehen. Mein Nacken kribbelte von der Energie des aufziehenden Zyklons.
»Hat Lord Ido etwas gesagt?«, fragte ich den Wächter.
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Laut gehört, Mylady.«
Mit einem Nicken machte ich mich auf den Weg den Gang hinunter in die Einsamkeit meiner engen Klause.
Ich schrak aus dem Schlaf hoch und lag mit dem Gesicht dicht an der Kojenwand. Die Kajütenlampe brannte noch, und ihr gelbes Licht leuchtete unerschütterlich trotz des starken Hebens und Senkens des Schiffes. Das Klatschen der Wellen gegen den Schiffsrumpf dröhnte durch das Holz, und ich hörte den Wind heulen – ein unheimliches Geräusch, so als litte ein Drache schlimme Schmerzen. Ich drehte mich auf den Rücken und wollte die Decke wegstrampeln, da sah ich eine Gestalt, die neben meiner Koje kauerte. Vor Schreck zog ich die Beine an und schob mich ans Kopfende der Pritsche zurück. Erst als ich alle Sinne zusammennahm, vermochte ich Ido zu erkennen.
»Was macht Ihr hier?«, keuchte ich.
Er legte einen Finger auf die Lippen. »Leise, Eona. Wenn man mich hier findet, reißt Kygo mir das Herz aus dem Leib.«
Ich senkte die Stimme. »Wie seid Ihr herausgekommen?«
»Eure ständige Verbindung zu mir scheint unterbrochen zu sein«, erwiderte er mit angespanntem Lächeln.
Mit der anderen Hand griff er an die Kante der Koje, als die Dschunke plötzlich absackte und sich im nächsten Moment steil hob, wobei das Holz ringsum ächzte. Hinter Idos beherrschtem Gleichmut war eine für ihn untypische Dringlichkeit zu spüren, die mich fast so beunruhigte wie die Tatsache, dass er in meiner Kajüte kauerte.
»Was wollt Ihr?«
»Im Moment will ich die nächsten Stunden überleben. Habt Ihr den Zyklon gespürt?«
Unwillkürlich rieb ich mir den Nacken. Das Kribbeln war zu einem Schmerz geworden.
Ido nickte. »Er hat seine Geschwindigkeit verdoppelt und die Richtung geändert. Die Ausläufer treffen uns in gut einer Stunde. Wir werden ihm nicht entkommen.«
Mein Unbehagen schlug um in nackte Angst. Fast alle, die ich liebte, waren auf dem Schiff. »Das sollten wir Meister Tozay sagen.«
Ein weiteres markerschütterndes Ächzen ertönte und Ido sah auf. »Dazu ist es zu spät.«
»Können wir den Zyklon nicht aufhalten?«
»Deshalb bin ich hier.«
»Ich dachte, wir wären nicht stark genug, um etwas zu tun.«
»Das sind wir auch nicht, wenn ich mit den Elementen ringen und obendrein noch die zehn Drachen abwehren muss.«
»Aber das müsst Ihr nicht.« Wieder sank die Dschunke in ein tiefes Wellental und ich hielt mich an den Ablagefächern fest. »Die Drachen haben es nur auf mich abgesehen. Ihr könntet es ohne mich tun.«
Ido erhob sich und setzte sich ans Fußende der Koje. »Eona, ich bin nicht stark genug, um den Zyklon allein zu beherrschen. Normalerweise braucht man alle Drachenaugen und alle ihre Tiere, um eine solche Kraft dazu zu bringen, die Richtung zu ändern.«
»Können wir nun etwas tun oder nicht?«
»Ich habe da eine Idee.« Er rieb sich über den Mund. »Aber sie birgt unbekannte Gefahren für uns beide.«
»Was für eine Idee?«
»Umgeht die zehn Drachen, indem Ihr mir Euren Willen aufzwingt.« Er sah mir tief in die Augen. »Aber lasst mich diese Kraft nehmen und dazu nutzen, uns aus dem Zyklon zu retten.«
»Ihr meint den Zwang, mit dem ich Euch dazu gebracht habe, Dillon zu rufen?« Ich errötete und dachte daran, wie Idos Lust in mich zurückgeflutet war.
»So haben wir gemeinsam die größtmögliche Macht.«
Obwohl ich noch in Hemd und Hose war, zog ich mir die Decke bis unters Kinn. Es wäre ein großes Wagnis: Jedes Mal wenn ich diese Pfade benutzte, war das für Ido die Chance, einen Weg zu finden, sie zu blockieren.
»Wird das denn klappen?«, fragte ich.
»Möglich.« Er beobachtete mich. »Aber seid Ihr bereit, es zu tun, ohne dass Kygo davon weiß?«
»Warum sollten wir es vor ihm geheim halten?«
»Habt Ihr ihm von der neuen Methode erzählt, wie Ihr mich beherrschen könnt?«
Ich wich seinem forschenden Blick aus. »Nein.«
»Nun, irgendwer hat es getan. Vielleicht Euer Wächter, der Insulaner? Er hat sicher gespürt, wie anders es sich anfühlte, als Ihr diese Kraft erstmals
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