EONA - Das letzte Drachenauge
ich im Stillen hinzu. Mögen sie mir vergeben, dass ich wieder bereit bin, den Treueeid zu brechen, und dass ich – was das Geheimnis des schwarzen Buchs anlangt – selbst Tozay nicht traue .
Nach der Begegnung mit Tozay wusste ich, dass jetzt an Schlaf noch weniger zu denken war, doch ich stieg durch die Luke und auf die steile Treppe zu meiner Kabine. Im Halbdunkel kauerte ein Mann auf der untersten Stufe, den kahlen Kopf in die Hände gestützt. Idos Wächter beobachtete ihn mit verschränkten Armen. Ich trat laut auf, als ich hinunterstieg, und das Klappern meiner Sandalen schreckte den Sitzenden auf. Er fuhr herum und blickte hoch. Er war gar nicht kahl, sondern trug einen Verband, und es war kein Mann, es war Dela. Sie stand auf, als ich das Mitteldeck erreichte, und ihr Lächeln wirkte angespannt.
»Ich habe auf Euch gewartet.«
Ein Seitenblick zeigte mir, dass der Wächter wieder aufhorchte, und ich zog Dela an die Treppe zum Mannschaftsquartier. Im milden Licht der Stiegenlampe sah ich ihre rot geränderten Augen. »Was ist? Habt Ihr etwas Schlimmes entdeckt in dem Buch?«
»Nein.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten.«
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sich auf den Stufen unter uns ein Schatten bewegte.
»Natürlich. Worum geht es denn?«
»Ich möchte, dass Ihr mich heilt.« Sie legte die Hand an ihre bandagierte Wange.
»Wird die Verletzung schlimmer? Könnt Ihr den Kiefer nicht mehr richtig bewegen?«
»Nein, es ist alles in Ordnung.«
»Warum wollt Ihr dann, dass ich Euch heile?« Ich wich zurück. »Ihr wisst, dass ich dann über Euren Willen verfüge. Vida sagt, Eure Verwundung wird von selbst wieder gut.«
»Ich weiß.« Ihre Stimme brach. »Aber trotzdem möchte ich, dass Ihr es tut.«
»Nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss, Dela.«
»Könnt Ihr es nicht einfach tun, weil ich Euch darum bitte?«
»Habt Ihr Angst, dass Ihr entstellt seid?«
»Nein, das ist es nicht.« Sie wandte das Gesicht ein wenig von mir ab. »Versteht Ihr denn nicht? Wenn Ihr mich heilt, sind wir gleich Ryko und ich – dann sind wir wieder gleich.«
Ein Schatten zuckte auf, wuchs zu einem mächtigen Leib und stürzte die Stufen hoch. Das Licht fing die Bewegung seiner Brustmuskeln ein und das Entsetzen in seinen Augen.
»Nein!«, schrie Ryko und hievte sich auf das Mitteldeck. »Das werdet Ihr nicht tun.«
Dela fuhr herum. »Und warum nicht?«
Der Insulaner packte sie an der Schulter. »Denkt Ihr, ich würde das wollen?« Er sah mir kurz in die Augen und die Furcht in seinem Blick schlug um in wilde Wut. »Glaubt Ihr, ich will, dass auch Ihr in ihrer Geistwelt gefangen seid?«
Ich wollte etwas vorbringen zu meiner Verteidigung, doch ich unterdrückte es und trat zurück. Das war eine Sache zwischen den beiden, und die sollten sie am besten allein austragen.
»Immerhin wäre ich dann mit dir vereint!« Dela packte mich an meinem Gewand und hielt mich zurück. »Geht nicht weg, Eona. Ich will, dass Ihr mich heilt.«
»Nein!«, rief Ryko. »Bitte, Dela, tut das nicht. Nicht für mich. Ich könnte das nicht ertragen.«
Sie nahm seine Hand, doch er riss sie weg, als hätte er einen Menschen von königlichem Blut berührt, trat zurück und verbeugte sich tief. »Vergebt mir.«
»Und ich kann das nicht ertragen, Ryko.« Dela wies auf den Abstand, den er zwischen sie gebracht hatte. »Dieser Abstand, damit uns später nichts verletzt. Das klappt nicht, denn es verletzt mich jetzt !«
»Es ist besser so«, erwiderte er, doch seine gequälte Miene strafte seine Worte Lügen.
»Du weißt, dass das nicht stimmt.« Sie trat zu ihm hin und legte ihre Hand auf seine Brust. »Ich wäre jetzt tot, wenn die Klinge meinen Kopf aus einem anderen Winkel getroffen hätte. Hätte dir das irgendeinen Schmerz erspart, Ryko?«
Sein Blick ruhte auf ihrer Hand. Langsam schüttelte er den Kopf.
»Dann sei nicht so ein edelmütiger Idiot«, flüsterte sie.
»Ich möchte dich bloß vor Schmerz bewahren.«
»Das kannst du nicht.«
Sie streichelte sein zerquältes Gesicht. Sanft zog er sie an sich und ihr Kopf passte genau unter sein Kinn. Sie drängte sich an ihn und ihr schlanker Leib schien in seiner Umarmung zu versinken. Er küsste sie auf ihre bandagierte Stirn und bei dieser zärtlichen Geste zog sich meine Kehle schmerzhaft zusammen.
Rasch drehte ich mich um und sah, wie Idos Wächter hinter der Treppe hervorspähte.
»Zurück auf Euren Posten«, befahl ich
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