EONA - Das letzte Drachenauge
betrachtete mich und in seinen Augen stand dieselbe düstere Frage.
Neben mir nahm Yuso Ido die Handschellen ab und zog sie ihm klirrend von den Gelenken. Das Drachenauge spreizte langsam die Finger, ließ die Schultern kreisen und achtete nicht darauf, dass der Hauptmann sich streitlustig weigerte, ein wenig zurückzutreten.
»Majestät!« Der Kundschafter erhob sich aus der Hocke und wies auf die Ebene. »Sethons Männer gehen aufeinander los!«
Während Kygo an den Rand des Abgrunds trat, blieb ich zurück. Ich wusste nicht mehr, wo ich stehen sollte. An seiner Seite? Das bezweifelte ich.
»Lady Eona. Lord Ido. Seht euch das an!«, befahl der Kaiser schroff.
Ich folgte Ido über die kleine Lichtung und wir spähten über die Kante. Unter uns hatten die zerklüfteten Reihen von Fußsoldaten um Dillon die Richtung geändert und sich gegen die Reiter gewandt, die sie in den Tod drängten. Ich blinzelte, um Einzelheiten auszumachen in all dem roten Dunst und spritzenden Schlamm. Sie drängten nicht nur voran, sie hieben aufeinander ein und versuchten zu fliehen.
»Der Junge hat sich seinen Weg durch eine ganze Armee gebahnt«, unterbrach Kygo das bedrückte Schweigen.
»Ich schätze, Sethon hat fast tausend Mann verloren«, sagte Tozay. »Und das Hua-do derer, die ihm geblieben sind. Es wird eine schwere Aufgabe für ihn, seine Truppen neu zu formieren.«
Kygo sah Ido an. »Seid Ihr sicher, dass Ihr ganz nah an Dillon heranmüsst, um das schwarze Buch zu besiegen?«
Ido nickte. »Er zehrt die Macht des Rattendrachen auf. Meine Macht.« Vor Schmerz sprach er mit rauer Stimme. »Darum werde ich seinen Zugang zu dem Tier blockieren, aber Lady Eona muss einen Schlag gegen das schwarze Buch führen. Und dazu muss sie es berühren.«
Ich zuckte zusammen, denn ich erinnerte mich, wie die Worte des Buches in meinem Geist gebrannt hatten.
»Wir müssen alle Quellen der Macht einsetzen, die wir haben«, fügte Ido hinzu. »Auch Lady Eonas Herrschaft über mich.«
Sogar jetzt reizte er Kygo. Die beiden Männer musterten einander in grimmigem Schweigen.
»Eine Quelle der Macht habt Ihr vergessen«, sagte der Kaiser schließlich. »Mein Blut und das schwarze Buch können gemeinsam Drachenmacht zwingen. Falls Lady Eona mich also nah genug an Dillon heranbringt, kann ich ihn aufhalten.«
»Nein!«, riefen Tozay und ich wie aus einem Mund.
»Majestät, Ihr dürft Euer Leben nicht aufs Spiel setzen«, erklärte Tozay mit Nachdruck.
»Wollt Ihr etwa, dass ich zusehe, während Lady –« Er verbiss sich, was er hatte sagen wollen. »Ich kann nicht einfach nur zusehen, wenn andere sich so einem Grauen stellen.«
Ein winziger warmer Schimmer brach durch meine Trostlosigkeit.
»Genau das tut ein König«, sagte Tozay schlicht. »Majestät, falls Ihr dort hinuntergeht, werde ich Euch mit Gewalt daran hindern. Auch wenn ich dafür hingerichtet werde.«
Kygo funkelte ihn an. »Ich bin nicht wie mein Vater, Tozay. Ich schenke anderen nicht blind mein Vertrauen und übergebe niemandem meine Truppen, nur um mich der Realität des Krieges nicht stellen zu müssen. Ich habe keine Angst, zu kämpfen.«
Ich schnappte nach Luft. Er würde die Götter erzürnen mit einer solchen Nichtachtung.
Tozay straffte sich. »Euer verehrter Vater ist niemals ängstlich gewesen«, sagte er. »Er hat dieses Land aufopferungsvoll geliebt und wollte nicht, dass es in ewigem Kriegsgeschrei versinkt. Ich habe gedacht, sein Sohn sei genauso.«
»Das bin ich«, brachte Kygo mühsam hervor. »Bis zu einem gewissen Punkt.«
»An diesem Punkt sind wir noch nicht, Majestät. Glaubt mir.«
Kygo wandte sich ab und ging ein paar Schritte über die Lichtung, als wollte er seiner Enttäuschung durch etwas Bewegung Luft machen. »Dann nehmt wenigstens etwas von meinem Blut.«
Von seinem Blut.
Ich betrachtete seine geballte Faust, und das schimmernde Gold brachte mich auf eine Idee. »Euer Ring«, sagte ich und trat hoffnungsvoll näher. »Enthält er wirklich Euer Blut?«
Er fuhr herum und seine freudige Miene zeigte, dass er wusste, worauf ich hinauswollte. »Ja.« Er senkte die Stimme. »Was das angeht, habe ich Euch die Wahrheit gesagt.«
Ich biss mir auf die Lippe.
»Es ist allerdings nicht viel darin«, setzte er hinzu und führte Daumen und Zeigefinger nah zusammen. »Wird das genügen?«
Ich sah mich zu Ido um. »Genügt es?«
»Niemand hat je erlebt, wie es ist, wenn die Blutkraft des Buches wirkt. Ich weiß es nicht.«
Kygo drehte den Ring
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