EONA - Das letzte Drachenauge
Moment und gewährte mir einen Atemzug von der goldenen Macht des roten Drachen und eine rauschhafte, heilsame Leichtigkeit. Ich öffnete den Mund, um mein Tier zu rufen – Wende die Heilkraft gegen Sethon, nimm ihm seinen Willen, töte ihn! –, da schloss die Hand sich wieder, erstickte meine Stimme und trennte mich von der herrlichen Macht meines Drachen. Die Energie-Ebenen von Sethons Gesicht verfestigten sich wieder zu Fleisch und Blut und die fließenden Farben ringsum bogen sich wieder zu dem reglosen Zelt zusammen.
Ich schnappte nach Luft und genoss die plötzliche Abwesenheit von Schmerz. Die aufgerissene Haut an meiner Brust war wieder ganz glatt und mein gebrochener und geschwollener Finger war wieder heil.
Sethon hatte den Kopf in den Nacken geworfen, als kostete er die letzten Schauer einer Ekstase aus. »Das also ist die Energiewelt«, flüsterte er. »Was für eine Macht! Kein Wunder, dass Ido sie für sich allein haben wollte.« Er brach in ein heiseres Lachen aus. »Und wenn er Euch zu Hilfe kommt, werde ich auch seinen Drachen besitzen. Eine Armee mit zwei Drachenaugen – ich werde unbesiegbar sein.«
»Nein!«
Er wischte seine blutige Hand an meiner Brust ab. »Ihr habt keine Wahl, Lady Eona. Euer Wille ist mein.« Er hob erneut das Messer. »Und nicht mehr lange, dann wird auch Euer Geist mein sein.«
Wieder hob er mein Kinn und durch einen Schleier von Blut und Tränen konnte ich ihn nur verschwommen sehen. Er hörte nicht mehr auf, er ritzte mich immer und immer wieder.
Stunden mussten vergangen sein – unten an der Zeltwand konnte ich den Morgen heraufziehen sehen.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er den hölzernen Hammer nahm. Er wollte meinen Geist und er würde ihn bald besitzen; ich spürte, wie meine Hoffnung schwand und wie ich an Stärke und Entschlossenheit verlor.
Ich musste einen Weg finden, aus seiner Reichweite zu gelangen. Bevor es zu spät war.
Ido hatte Zuflucht zu seinem Drachen genommen. Aber wie? Durch Schmerz , hatte er gesagt. Langsam konnte mein benommener Geist sich erinnern: Wir hatten trainiert, es roch nach Jasmin, und er hatte seine Daumen in meine weichen Handflächen gedrückt – unsere erste Berührung. Er hatte mir gesagt, Schmerz sei eine Energie. Ich könnte damit meinen Drachen finden. Es sei keine wahre Vereinigung, eher eine letzte Zuflucht – und gefährlich für den Drachen und für das Drachenauge.
Doch Ido war nicht gehalten worden von den Fesseln aus königlichem Blut und aus dem schwarzen Buch.
Sethon bückte sich, zog mir eine Sandale aus und drückte meinen Fuß in den Schmutz – eine feste Unterlage für seinen Hammer. Unter der nackten Sohle spürte ich den rauen Boden und mein nasses Blut. Und noch etwas: ein leichtes Zittern im Energietor meines Fußes.
Ich hielt ganz still und achtete auf das, was jenseits der bohrenden Schmerzen in meinem Körper war: Erdenergie, die älteste Macht. Und mein Blut – das Blut meiner Vorfahren – sickerte aus mir heraus in den Staub des Ostens. In das Herzland meines Drachen. Ins Zentrum seiner Macht. Ich atmete bebend ein, um den Anflug verzweifelter Hoffnung zu verbergen, und wartete. Voller Angst.
Der gewaltige Schlag fuhr durch mich hindurch und alles in mir krümmte sich vor Schmerz. Schreiend öffnete ich mich der Erdenergie und der ursprünglichen Kraft meines Blutes – ein alter Ruf an einen alten Drachen.
Ich wirbelte herum. Schwerelos. Der Schmerz verschwunden. Jede Empfindung verschwunden. Nur Dunkelheit – in meinen Augen, in meiner Nase, in meinem Mund. Ein Kokon aus gnädiger Erlösung.
War ich tot?
Eona.
Eine vertraute Stimme.
Eona. Komm. Ich warte schon so lange. Wir alle warten schon so lange.
Warten? Wer hatte gewartet?
Komm.
Die Stimme zog mich aus der Dunkelheit in das kreisende Rot, Grün und Blau der Himmelsebene. Unter mir sank mein Körper auf den Stuhl. Noch immer durchpulste ihn silbernes Hua und die Pfade waren mit dem Schwarz des Buches durchzogen. Ich war also nicht tot.
Sethons dunkler Energieleib beugte sich über meine erschlaffte Gestalt und zog meinen Kopf an den Haaren hoch. »Sie ist in der Schattenwelt.« Er knallte den Hammer auf den Tisch.
Ich war in meinem Drachen. Sicher vor Sethon. Mein Triumph ballte sich zu einer eiskalten Absicht: Das war eine Gelegenheit, ihn zu töten. Und seine Armee in alle Winde zu zerstreuen.
Eona. Die Stimme zog mich weg von meinem Hass.
Du musst es in Ordnung bringen.
Die Stimme war in mir, neben mir, über
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