EONA - Das letzte Drachenauge
ziehen. Abgesehen von meinen Händen, die noch immer von den Perlen gefesselt und nutzlos waren, hatte er meinen Körper aus seiner Kontrolle entlassen und ich hätte es nicht ertragen, diese Freiheit aufs Neue zu verlieren – zumal er meine Macht weiter in einem würgenden Griff hielt, wie eine zu enge Leine um den Hals eines Hundes. Brennende Scham überkam mich: Genau das hatte ich Ido angetan. Und gemeinsam taten wir es den Drachen an.
»Wir sollten um den Steilhang herumgehen«, fügte Tuy hinzu, »und unter gleichwertigen Bedingungen mit allen Kräften angreifen. Es braucht nur eine Woche oder so und wir schlachten sie ab mit nur ganz geringen Verlusten.«
Sethons Finger wühlten sich in meine Haare und zerrten meinen Kopf in den Nacken. Ich richtete den Blick auf den Baldachin und wollte mir nicht anmerken lassen, wie heftig es schmerzte. »Schau, was ich hier habe, mein Bruder«, sagte er und schüttelte meinen Kopf. »Drachenmacht. Ich brauche keine gleichwertigen Bedingungen.«
Tuys Blick glitt über mein Gesicht. »Jeder sieht, was Ihr da habt, Majestät«, versetzte er gepresst. »Das Spiegeldrachenauge ist zweifellos eine schöne Beute. Aber die Gegenwart von Lady Eona bereitet den Soldaten Unbehagen. Sie fürchten, dass Ihr dem Feldzug Unglück bringt, indem Ihr Euch über den Treueeid hinwegsetzt.«
Sethon ließ meine Haare los und wies auf die gewaltigen Bataillone unter uns. Die Rüstung jeder Division hatte ihre eigene Farbe – rot, grün, purpur, gelb, blau – und die prächtigen bunten Reihen schienen sich bis an den Steilhang zu erstrecken.
»Wenn Lord Ido angreift, werden die Männer sehr froh sein über Eonas Drachenmacht«, sagte er. »Ihr erobert den Kamm, ich kümmere mich um Ido und seinen Drachen. Selbst wenn wir fünfmal so viele Männer verlieren wie unsere Gegner, werden wir sie bald überrennen.« Er winkte Yuso mit dem Finger heran. »Erinnert meinen Bruder daran, wie vielen Männern wir gegenübertreten.«
Yuso trat vor. »Nicht mehr als viereinhalbtausend, Großlord Tuy.«
Ich schluckte meine Wut hinunter. Begriff Yuso denn nicht, dass Sethon seinen Sohn niemals freilassen würde? Er hatte uns für ein leeres Versprechen verraten und nun bekam der Widerstand es mit Drachenmacht zu tun. Mit meiner Macht.
»Die Zahlen sind mir geläufig, Majestät«, entgegnete Tuy. »Aber –«
»Nein. Ich will diese Sache zu Ende bringen«, sagte Sethon. »Ich habe lange genug auf den Thron gewartet – und auf die Perle.« Er wies auf einen Mann, der am anderen Ende der Plattform kniete, einen Arzt, nach der braunen Mütze und der rot lackierten Schachtel neben ihm zu schließen. »Ich will, dass Kygo und Ido besiegt und gefangen genommen werden und dass die Perle an meinen Hals genäht wird. Und zwar heute . Verstanden?«
Das war Kygos Todesurteil. Sobald die Perle von seinem Hals verschwand, hatte er nur mehr zwölf Atemzüge zu leben – weniger als eine Minute.
Tuy verbeugte sich. »Ja, Majestät.«
»Gebt der Tigerdivision das Signal, dass sie in Position gehen sollen, und kehrt zurück zu Eurem Bataillon.«
Mit verhärteter Miene verneigte Tuy sich erneut und ging. Sethon beobachtete, wie er den Befehl an die zwölf Flaggenmänner in lederner Rüstung übermittelte, die auf der obersten Stufe der Plattform standen. Sofort hoben zwei Männer am Ende der Reihe ihre großen viereckigen Kommandoflaggen – die eine gelb, die andere weiß, beide an dicken Stangen – und schwenkten sie vor sich senkrecht zu ihrem Körper im böigen Wind. Unten löste sich die gelbe Division vom Hauptheer.
Sethon knurrte zufrieden. »Nun ist es an uns, Lady Eona, Lord Idos Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.« Er strich mir wieder übers Haar.
Ich zog den Kopf weg. »Ihr habt die Drachenmacht erst seit einem Tag«, erwiderte ich. »Er hat sie seit zwölf Jahren. Ihr werdet ihn nicht besiegen.«
Ich wusste, dass er mich bestrafen würde für meinen Trotz, doch das war es mir wert. Stärke kam mit frechen Worten. Ich spannte mich an und erwartete seinen Schlag, doch er lachte nur.
»Als Lord Ido in meinem Kerker saß, habe ich drei wichtige Dinge über ihn erfahren«, sagte Sethon. »Erstens muss er uneingeschränkt über seine Fähigkeiten verfügen, um seine Macht einzusetzen. Zweitens kann er diese Macht jeweils nur auf eine Aufgabe richten.« Sethon beugte sich herunter, bis sein Gesicht ganz nah vor dem meinen war. »Das dritte betrifft mehr den Menschen Ido als das Drachenauge: Nachdem ich ihn
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