EONA - Das letzte Drachenauge
die Energie des Spiegeldrachen im Rückgriff auf die Erdlinien bündeln, doch solange ich meine Macht nicht kontrollieren und die alten Schriftzeichen nicht lesen konnte, war es kaum mehr als ein schönes Schmuckstück. Ich schob ihn wieder in die Hülle zurück und legte ihn neben die Schwerter.
Dann nahm ich die Gürteltasche ab, legte sie neben den Kompass, kämpfte mich aus meinem Obergewand und saß – froh, es für eine Weile nicht tragen zu müssen – im dünnen Unterhemd da und lauschte den leisen Geräuschen der im Hof singenden und lachenden Soldaten.
Während ich Wache hielt, dachte ich über meine Entscheidung nach, Haddo am Betreten des Stallhofs zu hindern. Dela hatte sie töricht genannt. Zugegeben, es hatte ein gewisses Risiko bestanden, doch die Gefahr einer Entdeckung war durchaus da gewesen. Ich hatte nicht tatenlos zusehen können, während Ryko in Gefahr war – das wäre gegen meine Natur gewesen. Die Widerstandskraft eines Menschen soll sich ja erst unter den Hammerschlägen der Umstände erweisen. Noch vor Stunden hätte ich gesagt, nahezu fünf Jahre meiner Kindheit hätten mir ständige Angst und übertriebene Vorsicht eingebläut. Doch nun erkannte ich, dass es genau umgekehrt war: Diese Jahre hatten aus mir einen Menschen gemacht, der voranschritt und die Hand nach dem ausstreckte, was er wollte. Es war zu spät für mich, die Hände noch hinter dem Rücken zu verschränken und abzuwarten wie eine anständige Frau.
Beim Klang einer fernen Mitternachtsglocke bückte ich mich schließlich und rüttelte Dela wach. Sie setzte sich sofort auf und tastete nach ihrem Messer.
»Jetzt seid Ihr dran mit Wachen«, flüsterte ich. »Keine besonderen Vorkommnisse.«
Sie warf mir ein müdes Lächeln zu. »Hab ich mich nicht erst vor zwei Minuten hingelegt?«
»Vor vier Minuten.« Ich erwiderte ihr Lächeln und war froh, dass der Schlaf ihren Zorn besänftigt und ihre Sorgen gelindert hatte.
Während Dela zum Nachttopf ging, machte ich es mir auf meiner Matte bequem. Langsam ließ meine Aufmerksamkeit nach, und ich nickte immer wieder kurz ein, während es im Gasthaus ringsum allmählich still wurde.
Das unverwechselbare Klirren, wenn Klinge auf Klinge traf, schreckte mich aus dem Halbschlaf, und ich hockte mich auf die Knie. Der Morgen dämmerte bereits und im Zimmer war es grau. Ich rappelte mich hoch und lauschte, aus welcher Richtung die Gefahr kam.
Sie kam von unten, vom Hof.
Eilige Schritte auf dem Flur wischten meine Verwirrung beiseite. Vida kauerte schon mit einem Messer in der Hand am Boden. Dela rollte sich von ihrer Matte, kampfbereit. Ich nahm meine Schwerter, deren alte Energie glühend heiß auf mich überging.
Die Schiebetür ging auf.
Reglos starrten wir alle auf die Gestalt im Rahmen.
Ryko.
Im schwachen Licht des Fensters glänzte es klebrig nass auf seinem Gesicht und auf seiner Brust. Blut. Sehr viel Blut.
4
D er stämmige Mann stolperte ins Zimmer und seine Brust hob und senkte sich keuchend. Er ließ sein Schwert fallen und krümmte sich.
Dela stürzte auf ihn zu. »Du bist verwundet.«
»Nein.« Ryko packte ihre ausgestreckte Hand und hielt sie auf Armeslänge von sich weg. »Das ist unwichtig.« Er atmete bebend ein. »Der Perlenkaiser ist unten.«
»Hier?« Vida war entgeistert. »Warum denn das?«
Rykos Gesicht sah ganz starr aus im Mondlicht. »Als ich Seine Majestät fand, sagte ich ihm, Sethon habe seine Mutter und seinen Bruder ermordet. Da ist er durchgedreht, eine Art Blutrausch. Er hat zwei Soldaten aus seiner Garde umgebracht und ist dann wegen Sethons Männern herkommen. Er sticht jeden nieder, der ihm unter die Augen kommt. Jeden.«
»Wenn er getötet wird, ist alles verloren«, sagte Vida.
Ich sah auf die Schwertgriffe aus Mondstein und Jade in meinen Händen. Ihr Leuchten verschwamm zu einer Vision von der Kaiserlichen Perle, die an Kygos Hals geheftet war. Ich schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden. Es verschwand, doch ein leises Summen nistete sich in meinem Hinterkopf ein.
»Wir müssen ihn aufhalten«, sagte Vida. »Ihn entwaffnen und dann wegschaffen.«
»Ihn entwaffnen?«, fragte Ryko. »Wir dürfen doch nicht das Schwert gegen den Kaiser erheben!« Er fuhr sich über das Gesicht, um das Blut abzuwischen. »Dela, bringt Lady Eona in Sicherheit. Los, solange die Kämpfe sich noch auf den Hof beschränken.«
»Ich gehe nirgendwohin«, sagte ich. »Wir müssen den Kaiser aufhalten.« Das Summen war inzwischen lauter
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