EONA - Das letzte Drachenauge
geworden.
»Das geht nicht«, rief Ryko. »Wir dürfen ihn nicht berühren.«
Ich umfasste Kinras Schwerter fester. »Ich schon.«
Ich hatte den Perlenkaiser schon einmal geschlagen. Vor kaum einer Woche hatte ich ihm den Handballen in die Kehle gerammt, damit er aufhörte, mich zu würgen. Er hatte mich für Lord Eon gehalten, seinen mächtigen Verbündeten. Als ich ihm gestand, dass ich nur ein Mädchen bin, überkam ihn eine entsetzliche Wut.
Ich wandte mich an Vida. »Hol Solly und besorg uns ein paar Pferde.«
»Woher?«
»Keine Ahnung. Tu es einfach!«
Ich lief zur Tür, doch Dela trat mir in den Weg.
»Lasst mich durch«, sagte ich.
»Nein. Ihr dürft Euch nicht schon wieder in Gefahr bringen.«
»Aus dem Weg, Dela.« Ich wollte um sie herumgehen, doch sie ließ es nicht zu.
»Wenn Ihr sterbt, Lady«, sagte sie zu mir, »hat der Kaiser keine Chance mehr, seinen Thron zurückzuerobern.«
Ein Ansturm fremder Energie durchzuckte mich. Ich stieß Dela den Ellbogen in die Brust, was ihr den Atem nahm. Sie sank zu Boden.
Einen Moment lang bewegte sich niemand. Dann holte Dela rasselnd und mit schreckgeweiteten Augen Luft. Staunend wich ich einen Schritt zurück. Die ungestüme Energie war von den Schwertern gekommen. Von Kinra.
»Halt sie auf, Ryko!«, keuchte Dela schließlich.
»Ich kann nicht«, sagte er zurückweichend und sah mich so wild an, als wäre ich diejenige, die ihn aufhielt. Er wurde bleich vor Angst. »Ich kann nicht.«
»Was?« Delas Stimme klang schrill vor Ungläubigkeit. Sie wollte sich auf mich stürzen, doch ich hastete an Ryko vorbei in den dämmrigen Flur, rannte zur Treppe und nahm zwei Stufen auf einmal. Schon auf dem Treppenabsatz hörte ich den Kampf im Hof nicht mehr nur gedämpft, sondern vernahm Schreie und Rufe und dazwischen Schwertergeklirr.
»Was ist los mit dir, Ryko?«, hörte ich Dela fragen. Beide folgten mir. »Warum hast du sie nicht aufgehalten?«
»Ich weiß nicht! Ich … ich konnte mich nicht bewegen!«
Ich nahm die letzten Stufen hinunter in einem Satz und kam mit Wucht unten auf, da ich die Beweglichkeit meines geheilten Körpers noch nicht gewohnt war. Kinras Entschlossenheit trommelte in meinem Kopf und trieb mich in den Kampf. Ryko und Dela klapperten hinter mir die Treppe herunter.
»Eona, wartet«, flehte Dela.
Ich duckte mich und unterdrückte die wilde Lust, meine Schwerter gegen die beiden zu erheben.
»Geht nicht da raus!« Das war der Gastwirt, der mit angstbleichem Gesicht an der Hintertür stand. »Kommt hier entlang, Sir. Schnell, ich habe ein Versteck.« Er packte Dela am Arm und zog sie Richtung Stallhof.
Die roten Vorhänge an der Eingangstür hingen schlaff in der feuchten Morgendämmerung und verdeckten mir den Blick auf den Kampf. Obwohl das Schwerterklirren aus der Nähe kam, sagte mir Kinras Erfahrung, dass sich der eigentliche Kampf weiter drüben im Hof abspielte. Ich atmete tief ein und schlüpfte zwischen den Vorhängen hindurch in die erste Morgendämmerung.
Einen Moment lang sah ich nur Chaos: Schemenhafte Körper lagen verstreut auf dem Pflaster, Pferde bäumten sich auf, Männer fochten in Gruppen. Ringsum drangen das Wiehern erschrockener Pferde und die Schreie der Verletzten durch das Waffengeklirr und durch das angestrengte Stöhnen. Der Geruch von Blut und Urin schlug mir entgegen und ich musste zurückweichen. Doch dann flutete Kinras Wissen durch die Schwerter und gab dem Wirrwarr einen Sinn. Kygo saß auf einem Pferd mitten im Getümmel. Er trug keine Rüstung, nur sein weißes Trauergewand, das ich zuletzt im Palast an ihm gesehen hatte, und die schwere Seide war mit Schmutz und unheilvollen Spritzern dunklen Bluts bedeckt. Er hatte auch keinen Helm auf – sein langer, edelsteinschimmernder Zopf baumelte von seinem ansonsten rasierten Kopf, während Kygo auf alles einhieb, was sich bewegte. Vier einzelne Männer seiner Garde wehrten rings um den jungen Kaiser angreifende Soldaten ab. So überlegen Sethons Männer zahlenmäßig auch waren – die Gardisten schlugen sich wacker.
Das bleiche Leuchten an Kygos Hals lenkte meinen Blick auf die Kaiserliche Perle, die so groß war wie ein Entenei. Durch das Summen in meinem Kopf blitzte eine Erinnerung: Meine Finger strichen über den Hals eines Mannes, über die Perle, die in ihrer glatten Schönheit in die Grube zwischen seinen Schlüsselbeinen genäht war. Ich hörte ihn stöhnen vor Behagen. Jeden Moment bekäme ich nun die Gelegenheit, die Perle aus seiner
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