EONA - Das letzte Drachenauge
Lichtung trat.
»Ich dachte schon, Ihr hättet Euch verlaufen, Lady Eona«, sagte Yuso.
»Nein. Ich war nur ein paar Schritte weit weg.«
»Geht wieder auf Euren Posten, Hauptmann«, befahl der Kaiser leise.
Yuso verbeugte sich und ging am Rand unseres Lagers entlang wieder zurück. Erst als er wieder auf seinem Posten war, sagte der Kaiser: »Los, setzt Euch zu mir.«
Bei dieser unvermittelten Anweisung musste ich blinzeln. Seine Stimme hatte etwas Dringliches. War er etwa böse auf mich?
»Natürlich, Majestät.«
Er führte mich am Waldrand entlang ein gutes Stück von den schlafenden Gestalten Vidas und Sollys weg.
»Das wird reichen.«
Er setzte sich auf den Boden und ich ließ mich unter Schmerzen neben ihm nieder und schlang Rock und Unterkleid um meine Beine. Pferdeschweiß und getrocknetes Blut hatten den Stoff besudelt. Ich hätte meine Sachen vor dem Schlafengehen waschen sollen.
»Wisst Ihr, was mein Vater über Euch gesagt hat?« Kygo sprach in dem gemurmelten Flüsterton, der bei privaten Unterhaltungen am Hof verwendet wurde. Wenn ich mich nicht so nah zu ihm hingebeugt hätte, dann hätte ich ihn durch das ununterbrochene Zirpen der Insekten und das Rauschen des Wassers hindurch nicht verstanden.
Ich verbarg meine Überraschung und antwortete ebenso leise: »Nein, Majestät.«
»Im Pavillon der Irdischen Erleuchtung war er überaus beeindruckt von Euch. Er sagte, Ihr könntet bei einem Streit beide Seiten sehen und Ihr wärt, obwohl ohne jede Vorbildung, eine strategische Naturbegabung.«
Ich errötete. Eine strategische Naturbegabung? Ich dachte nach über dieses Kompliment und betrachtete es wie einen Edelstein. Falls man es Strategie nennen konnte, sich über die Beweggründe anderer den Kopf zu zerbrechen, hatte der Himmlische Meister vielleicht recht gehabt.
»Er wusste nicht einmal die Hälfte, nicht wahr?«, setzte der Kaiser trocken hinzu. »Was er wohl zu einem weiblichen Drachenauge gesagt hätte?«
Ich errötete wieder. »Er hat jedenfalls gesagt, ein verborgenes Wesen sei nicht zwangsläufig böse.«
»Daran erinnere ich mich«, erwiderte der Kaiser. »Das stammt aus den Lehren von Xsu-Ree, dem Meister des Krieges. ›Alle Generäle haben ein verborgenes Wesen. Ganz gleich, ob es stark ist oder schwach, gut oder böse – man muss es untersuchen, wenn man siegen will.‹«
»Erkenne deinen Feind«, murmelte ich.
»Woher kennt Ihr die Lehren von Xsu-Ree? Nur Königen und Generälen ist es erlaubt, seine Abhandlung zu studieren.«
»Auch der niedrigste Diener kennt diese Maxime«, gab ich zurück. »Wie sollte er sonst die Stimmung seines Herrn vorhersagen oder den Diener über ihm überlisten?«
»Dann sagt mir, was Ihr über unseren Feind wisst«, forderte der Kaiser mich nach kurzem Nachdenken auf. »Was wisst Ihr über meinen Onkel?«
Ich hatte Großlord Sethon nur einmal gesehen, bei der Siegesprozession zu seinen Ehren – der gleichen Prozession, bei der mein armer Meister von Lord Ido vergiftet wurde und starb. Ich schob das schaurige Bild meines sich in Krämpfen windenden Meisters weg und konzentrierte mich auf die Erinnerung an Sethon. Er hatte seinem Halbbruder, dem alten Kaiser, sehr ähnlich gesehen. Beide hatten eine breite Stirn und fast die gleiche Kinn- und Mundpartie gehabt. Sethon allerdings war von den Kämpfen gezeichnet: Seine Nase war gebrochen und seither flach und auf der Wange prangte eine tiefe halbmondförmige Narbe. Doch am deutlichsten erinnerte ich mich an seine Stimme: kalt und monoton war sie und zeigte keinerlei Gefühle.
»Nicht viel«, gab ich zurück. »Dass er Großlord und ein erfolgreicher General ist, Oberbefehlshaber aller Armeen.«
»Und der älteste Sohn einer Konkubine – genau wie ich«, fügte der Kaiser hinzu. »Wir haben den gleichen Geburtsrang.«
»Aber die Kaiserin hat ihn – anders als Euch – nicht als ältesten Sohn adoptiert«, bemerkte ich. »Ihr seid als erster Sohn anerkannt, während Sethon stets bloß als zweiter Haremssohn gegolten hat.«
»Mein Vater wurde von einer Kaiserin geboren, ich nicht. Manche Leute sind der Ansicht, Sethon habe genauso ein Anrecht auf den Thron wie ich.«
»Und einer von ihnen ist Sethon.« Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sein mochte, Großlord zu sein, also immer zweiter Haremssohn, der nun gegenüber einem Neffen zurückstehen musste, der mehr oder weniger den gleichen Geburtsrang hatte. »Ihr meint, Sethon denkt wirklich, dass er genau den gleichen Anspruch auf den
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