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EONA - Das letzte Drachenauge

EONA - Das letzte Drachenauge

Titel: EONA - Das letzte Drachenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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Thron hat wie Ihr? Dass nicht Ehrgeiz allein seine Skrupellosigkeit anheizt, sondern auch das Gefühl, ein Recht auf die Kaiserwürde zu haben?«
    »Mein Vater hatte recht – Ihr habt einen scharfen Verstand«, versetzte der Kaiser. »Xsu-Ree sagt, wir müssen den Schlüssel zu unserem Feind finden. Seinen Schwachpunkt. Ich denke, diese Überheblichkeit ist der Schlüssel zu meinem Onkel. Was meint Ihr?«
    »Wenn ein Mensch stolz das Kinn hebt, sieht er den Abgrund zu seinen Füßen nicht«, zitierte ich den großen Dichter Cho. Dann runzelte ich die Stirn und spielte den Gedanken durch, ob Sethon ein durch Überheblichkeit geschwächter Mensch war. Doch es fühlte sich nicht richtig an. »Großlord Sethon hat viele Schlachten geschlagen, ohne je über seinen Stolz zu stolpern«, erwiderte ich. »Dieser Stolz könnte vielmehr sogar der Kern seines Erfolgs sein.«
    Der Kaiser lächelte. »Ihr habt mich nicht enttäuscht, Lady Eona.«
    Ich setzte mich gerade hin, sein belustigter Tonfall machte mich misstrauisch. Er berührte mich am Arm und zog mich wieder zu sich heran.
    »Lady, Ihr habt mich geschlagen, gegen mich gekämpft, Euch über meine Entscheidungen hinweggesetzt und meine Einschätzungen in Zweifel gezogen.« In seiner Stimme lag Wärme und ich blieb ganz ruhig sitzen. »Nur selten findet ein Kaiser jemanden, der dies alles aus Freundschaft tut. Ich brauche jemanden, der keine Angst hat, mir Paroli zu bieten. Der mir sagt, wenn ich das Vermächtnis meines Vaters enttäusche oder aus Unerfahrenheit spreche.« Er atmete tief durch. »Ich bitte Euch, mein Naiso zu sein, Lady Eona.«
    Die Nachtgeräusche ringsum gingen unter im Klopfen meines Herzens, das plötzlich in meinen Ohren klang. Der Naiso war der wichtigste Ratgeber des Kaisers – die einzige Ernennung bei Hofe, die man ungestraft verweigern konnte. In der alten Sprache war dies das Wort für »Wahrheitsbote«, doch es besagte viel mehr – es bedeutete, Bruder, Beschützer und, vielleicht am gefährlichsten, das Gewissen des Kaisers zu sein. Der Naiso war dafür verantwortlich, die Entscheidungen des Herrschers in Zweifel zu ziehen, seine Gedankengänge zu kritisieren und ihm die Wahrheit zu sagen, egal, wie hart und ungenießbar sie auch sein mochte.
    Dieser Posten war oft nur von ganz kurzer Dauer.
    Ich blickte in die Dunkelheit und kämpfte gegen den Aufruhr in meinem Kopf. Der Naiso war stets ein älterer Mann. Ein weiser Mann. Niemals eine Frau. Ein weiblicher Naiso war fast so undenkbar wie ein weibliches Drachenauge. Ein kleines, irres Lachen blieb mir in der Kehle stecken. Ich war ohnehin schon undenkbar – vielleicht konnte ich auch zweimal undenkbar sein. Doch ich hatte kein Recht darauf, einen König zu beraten. Ich hatte keine Erfahrung mit der gefahrvollen Politik eines Kaiserreichs und ich wusste nichts über Kriegskunst und Schlachten.
    »Majestät, ich bin bloß ein Mädchen. Ich bin ein Niemand. Ich kann Euch nicht beraten.«
    »Wie Ihr mich ganz richtig erinnert habt, seid Ihr das Herrschende Drachenauge.«
    »Yuso wäre eine bessere Wahl«, erwiderte ich und sah mich rasch zu der schweigenden Gestalt um, die um das Lager patrouillierte. »Er ist von Beruf Soldat. Oder Ryko.«
    »Nein, die beiden haben mich ausgebildet«, sagte der Kaiser. »Es sind anständige Männer, aber wer den Entscheidungen des Kaisers widerspricht, darf sich dabei nicht an den Schüler Kygo erinnern.«
    »Lady Dela?«, schlug ich vor.
    »Sie gehört zu den Höflingen und ist ein Contraire. Ich frage Euch nicht deswegen, weil Ihr die einzig Verfügbare in unserem kleinen Trupp seid. Kein Kaiser ist verpflichtet, einen Naiso zu ernennen. Ich frage Euch, weil ich glaube, dass Ihr mir die Wahrheit sagen werdet, während andere lügen und die Schwächen ausnutzen …« – seine Stimme wurde hart – »… und betrügen würden.«
    »Aber ich habe Euch auch belogen darüber, wer ich bin«, entgegnete ich. »Ich habe alle belogen.«
    »Ihr seid zur Geisterwache meines Vaters gekommen und habt mir die Wahrheit gesagt, obwohl Ihr schon längst unterwegs zu den Inseln hättet sein können. Selbst als Ihr dabei in Lebensgefahr geraten seid, habt Ihr nie gegen mich gearbeitet. Ich vertraue darauf.«
    Vertrauen: Dieses Wort durchbohrte mich. Ich hatte das Recht verwirkt, dass man mir vertraute, und doch wollte mein Kaiser sein Leben in meine Hände legen.
    Wenn ich Ja sagte, würde ich in einen Treibsand aus Einfluss und Verantwortung geraten.
    Wenn ich Nein sagte,

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