EONA - Das letzte Drachenauge
würde ich Kygos Vertrauen und seine gute Meinung von mir verlieren. Er würde sich nicht mehr so zu mir vorbeugen, als wäre das, was ich sagte, die Aufmerksamkeit eines Kaisers wert.
Konnte ich seinen Erwartungen gerecht werden und das Gewissen eines Königs sein?
Ich atmete tief durch und flehte dabei zu allen Göttern, die mich hören mochten: Helft mir, seine Wa hrheit zu sein. Und helft mir, meine eigene Wahrheit zu erkennen.
»Es ist mir eine Ehre, Euer Naiso zu sein, Majestät«, sagte ich und verbeugte mich.
»So wie es mir eine Ehre ist, dass Ihr mein Angebot angenommen habt«, erwiderte er und ein Lächeln trat an die Stelle der Förmlichkeit. »Ihr dürft mich Kygo nennen; Kaiser und Naiso begegnen einander als Ebenbürtige.«
Ich zuckte innerlich zusammen. Zweifellos glaubte er, was er da sagte, doch ich hatte einige Wochen zuvor seine Vorstellung von Ebenbürtigkeit im Pavillon der Irdischen Erleuchtung erlebt, angeblich einem Ort, an dem sich Geister aus allen gesellschaftlichen Schichten treffen konnten. Doch als sein Lehrer sich seinem Willen widersetzt hatte, war der ach so Ebenbürtige sofort zu einer kriecherischen Verbeugung gezwungen worden. Es schien viele Stufen von Ebenbürtigkeit zu geben und ich würde herausfinden müssen, welche davon er mir zugedacht hatte.
»Es gibt ein Gegenstück zu der alten Maxime Erkenne deinen Feind , Kygo«, sagte ich und stolperte fast über seinen Namen. »›Erkenne dich selbst.‹ Wo liegt Eure Schwäche? Was wird Großlord Sethon gegen Euch verwenden?«
»Unerfahrenheit«, erwiderte er sofort.
»Möglich.« Ich kniff die Lider zusammen und versuchte, diesen jungen Mann mit den Augen seines Onkels zu sehen. Unerfahren, wie Kygo selbst zugegeben hatte. Unerprobt im Krieg, aber mutig und gut ausgebildet. Fortschrittlich und barmherzig wie sein Vater und dessen Idealen verpflichtet – Idealen, die Sethon verabscheute. »Ich denke, Eure Schwäche liegt darin, dass Ihr mit Eurem Vater zu wetteifern sucht.«
Er rückte ein Stück ab. »Ich halte das nicht für eine Schwäche.«
»Ich auch nicht«, versicherte ich hastig, »doch ich vermute, Großlord Sethon tut das. Und er hat Euren Vater schon einmal besiegt.«
Bei der ungeschminkten Beurteilung der Lage zuckte Kygo zusammen. Ich wagte nicht, mich zu bewegen – ja, ich wagte nicht einmal zu atmen –, denn seine Vorstellung von Ebenbürtigkeit stimmte vielleicht nicht überein mit der meinen.
»Mein Herz möchte Euch nicht glauben, Naiso«, erwiderte er. »Doch mein Bauch sagt mir, dass Ihr recht habt. Danke.«
Und dann verneigte er sich.
Es war nur ein kurzes Senken des Kopfes, doch es machte mich frösteln.
Das war zu viel Ebenbürtigkeit. Zu viel Vertrauen. Ich hatte nichts getan, um die Verbeugung eines Kaisers zu verdienen. Ich hatte nicht einmal meine oberste Pflicht als Naiso erfüllt: ihm die Wahrheit zu sagen, egal, wie schwierig und gefährlich das auch sein mochte. Und die Wahrheit, die ich noch immer verborgen hielt, war tatsächlich sehr gefährlich.
Er hatte mir sein Vertrauen geschenkt. Wenn ich sein Naiso sein sollte, musste ich ihm den Beweis liefern, dass man mir vertrauen konnte.
»Ich kann meinen Drachen nicht rufen.« Schon während ich die Worte aussprach, hätte ich sie am liebsten ungeschehen gemacht.
Sein Kopf schnellte hoch. »Was?«
»Ich kann meine Macht nicht einsetzen.«
Er starrte mich an. »Überhaupt nicht?«
»Wenn ich es versuche, stürzen sich die zehn Tiere, die ihre Drachenaugen verloren haben, auf uns, und alles um mich herum wird zerstört.«
»Heilige Götter!« Er rieb sich die Stirn, als wollte er sich die schlechte Neuigkeit ins Hirn massieren. »Wann habt Ihr das herausgefunden?«
»Im Fischerdorf. Als ich Ryko geheilt habe.«
»Erzählt es mir«, sagte er streng. »Alles.«
Sehr sachlich erzählte ich ihm, wie ich den Spiegeldrachen gerufen und Ryko geheilt hatte und wie die Zerstörungskraft der anderen Drachen über uns hereingebrochen war, als sie sich mit uns hatten vereinen wollen. Und schließlich erzählte ich von Lord Idos Rückkehr.
»Soll das heißen, Ihr könnt Eure Macht ohne Ido nicht einsetzen?«
»Nein! Ich sage nur, dass er weiß, wie man die anderen Drachen aufhält, und ich nicht. Ich habe keine Übung darin. Ich hatte zwar schon mit dem Unterricht begonnen, aber dann –« Ich zuckte die Achseln. Er wusste nur zu gut, welche Ereignisse meine Ausbildung beendet hatten.
»Was ist mit dem roten Buch? Ihr habt mir gesagt, es
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