EONA - Das letzte Drachenauge
enthalte die Geheimnisse Eurer Macht.«
»Ich hoffe , dass es diese Geheimnisse enthält«, entgegnete ich. »Es ist in einer alten Variante der Frauenschrift verfasst und obendrein verschlüsselt. Dela entschlüsselt es, so rasch es geht, doch auch wenn sie mir das ganze Buch nun vorlesen könnte, würde das nichts nützen. Wenn ich meinen Drachen rufen würde, damit er die Geheimnisse aus dem Buch anwendet, würden die anderen Tiere mich überwältigen, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte.«
»Also braucht Ihr Ido«, sagte Kygo bissig. »Ihr braucht ihn, damit er Euch unterrichtet und die anderen Drachen in Schach hält.«
Ich schlang die Arme um meine Beine und legte das Kinn auf die Knie.
»Braucht Ihr Ido oder nicht?« Kygos Stimme nahm einen gebieterischen Klang an.
»Er ist wahrscheinlich sowieso schon tot.«
»Das müssen wir herausfinden. Ihr habt schon einmal durch seine Augen gesehen. Könnt Ihr das wieder tun?«
»Nein!« Ich blickte mich um und fürchtete, mit meinem Ungestüm das ganze Lager geweckt zu haben. Yuso hatte sein Schwert halb gezückt, doch sonst rührte sich niemand.
Kygo hob die Hand und verhinderte so, dass der Wächter zu uns kam. »Eona, wir müssen wissen, ob er noch lebt. Auch wenn ich ihn noch so verachte: Ido ist das letzte ausgebildete Drachenauge.«
Er hatte meinen Namen ohne den Titel verwendet, doch die Gefahr, die mit seiner Bitte verbunden war, verhinderte, dass ich mich dieser kleinen, süßen Ehre zu erfreuen vermochte.
»Ich kann es nicht riskieren, meinen Drachen zu rufen«, flüsterte ich. »Dabei würden Menschen sterben.«
Diesmal vermochte ich meine Erinnerungen nicht unter Verschluss zu halten: das einstürzende Fischerhaus um mich herum, der Ansturm wilder Macht in meinem Innern, das anbrandende Verlangen der trauernden Tiere und der Rattendrache, der sich wie rasend auf sie stürzte.
Der Rattendrache! Wenn er noch im Kreis war, dann lebte auch noch ein Rattendrachenauge! Und falls es sich dabei um Ido handelte, würde ich seine Gegenwart vielleicht wieder durch den Drachen spüren.
Ich packte Kygo am Arm. »Ich könnte in die Energiewelt schauen. Falls Ido lebt, spüre ich sicher sein Hua!«
»Ihr sagtet doch gerade, die anderen Drachen würden Euch zerreißen.«
»Nicht, solange ich meine Macht nicht rufe. Ich trete nur in die Energiewelt ein, schaue mich um und verlasse sie so schnell wie möglich wieder.«
»Und dabei seid Ihr sicher?«
»Sicherer, als wenn ich meinen Drachen rufen würde.«
»Also gut«, sagte er. »Aber seid vorsichtig.«
Ich zögerte. War es wirklich sicherer? »Falls sich etwas ändert« – ich wies in den Nachthimmel –, »der Wind etwa oder die Wolken, dann holt mich zurück. Und zwar sofort.«
»Wie denn?«
»Schüttelt mich. Schreit mir ins Ohr. Schlagt mich, wenn es sein muss. Nur lasst mich nicht in der Energiewelt.«
Mit einem unbehaglichen Blick zum Himmel nickte er.
Ich schob meine Furcht beiseite, richtete mich auf, konzentrierte mich auf meine Atmung und holte immer tiefer Luft, bis ich in die geistige Schau glitt. Der dunkle Wald wand sich zitternd und wurde zu einer Kaskade aus Farben und fließenden Lichtern. Während ich mich auf das Strömen des Hua konzentrierte, verschmolz die Energiewelt. Über mir war der schwache Umriss des Rattendrachen noch immer in Nordnordwest zu sehen. Und noch immer spürte ich Idos Gegenwart, als würde er mich beobachten. Er lebte, doch die Blässe und die Mattigkeit seines Tieres verhießen nichts Gutes. Im Osten glühte mein herrlicher Spiegeldrache tiefrot, bewegte sich und umgab mich fragend mit seiner Gegenwart. Das war noch nie geschehen. Ich sehnte mich danach, zu antworten, und ich spürte die Macht in mir anschwellen, doch ich durfte nicht riskieren, dass die zehn beraubten Drachen auf mich einstürmten, und zwang mich deshalb, das rote Tier nicht länger anzusehen, dessen Geschmack freilich noch immer auf meiner Zunge lag.
Kygo neben mir war für mich durchsichtig geworden. Silbernes Hua rann durch die zwölf Pfade seines Körpers, und seine sieben Energiepunkte – gleichmäßig vom Steißbein bis zur Schädeldecke verlaufend – strotzten vor Lebenskraft.
In einer Linie mit den hellen Wirbeln zog ein bleiches Glühen meinen Blick an. Es bewegte sich nicht, sondern pulsierte mit silberner Energie an Kygos Hals. Die Kaiserliche Perle. Ihre Macht zog mich an, und ihr sanftes Feuer streichelte meine Haut, als ich mit ausgestreckten Fingern über ihre
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