EONA - Das letzte Drachenauge
nicht allein um Überschwemmungen und um die Ernte, sondern auch um Schlammlawinen, Tsunamis, Wirbelstürme, Erdbeben. Es wird mehr Zerstörung geben, mehr Verzweiflung, mehr Tod.«
Er sah zum Himmel hinauf. Unvermeidlich folgten wir seinem Blick. Eine dunkle Wolkenbank zog sich in niedriger Höhe von Norden nach Süden und der Wind wehte den süßen, metallischen Geruch des Regens heran.
»Der Kaiser, der den Schutz der Drachen zurückbringt, wird das Hua-do der Bevölkerung gewinnen«, sagte Kygo. »Und der Kaiser, der das Hua-do besitzt, besitzt das Land.« Er hielt inne, damit diese unbestreitbare Wahrheit zu allen durchdrang. »Deshalb müssen wir Lord Ido retten. Wir dürfen nicht zulassen, dass mein Onkel über ein Drachenauge gebietet, erst recht nicht, wenn es unter Zwang steht. Und wir müssen dafür sorgen, dass die beiden Herrschenden Drachenaugen zusammenarbeiten, um das Land zu beruhigen und den Menschen zu zeigen, dass wir sie beschützen können.«
»Majestät, es gibt keine Gewähr dafür, dass Lord Ido einwilligt, uns zu helfen – selbst wenn es uns tatsächlich gelingt, ihn aus dem Palast zu schaffen«, wandte Ryko ein.
»Stimmt, es gibt keine Gewähr. Doch es gibt die Gewissheit, dass Lady Eona ohne Lord Ido ihre Macht nicht zu nutzen vermag. Sie muss darin geübt werden und er ist das einzige Drachenauge, das das tun kann.«
Es gab allerdings noch eine weitere Gewissheit, von der freilich allein ich wusste: Ido würde sofort die Gelegenheit ergreifen, meine Macht zu formen. Er hielt mich für den Schlüssel zur Perlenkette und zum Thron. Ich erwog kurz, diese Einsicht auszusprechen, doch die Vorstellung, Ido bekäme Zugang zu meiner Macht, würde niemanden beruhigen.
Und es bestand immerhin die Möglichkeit, dass ich ihn wirklich verändert hatte.
Yuso verbeugte sich tief und die anderen taten es ihm eilig nach. »Eure Weisheit ist eine Gabe des Himmels, Majestät«, erklärte er, und aus dem Halbkreis erhob sich zustimmendes Gemurmel.
»Und ich habe einen hervorragenden Ratgeber«, sagte Kygo. »Lady Eona hat zugestimmt, mein Naiso zu sein.«
»Was?« Ryko richtete sich aus seiner Verbeugung auf.
Yuso reagierte kaum weniger überrascht, und sein Erstaunen verwandelte sich in Ungläubigkeit. Die anderen sah ich nur verschwommen, da ich den Kopf senkte und mich gegen ihre Empörung wappnete.
» Nein , Majestät!« In seinem Zorn rutschte Ryko auf den Knien nach vorn. »Ihr kennt sie nicht.« Das Gehässige in seiner Stimme erschreckte mich und ich ballte die Fäuste.
»Ein Mädchen, Majestät? Wie kann ein Mädchen Euch beraten?«, fragte Yuso. »Das ist wider die Natur.«
»Sie ist nicht bloß ein Mädchen«, sagte Dela, »sondern das Herrschende Drachenauge.«
»Sie hat keine Übung«, widersprach Yuso, »und keine militärische Erfahrung. Sie weiß nicht das Geringste.«
»Es gab schon einmal einen weiblichen Naiso«, erwiderte Dela.
Ich sah auf. Hatte ich recht gehört? Eine andere Frau?
»Lady Eona ist die Wahl des Kaisers.« Vidas Stimme klang schrill vor Wagemut.
»Schuster, bleib bei deinem Leisten«, fuhr Solly sie an.
»Genug!« Beim Befehl des Kaisers knieten die sechs wieder tief nieder. »Lady Eona ist mein Naiso. Und damit Schluss.«
Ryko hob langsam den Kopf. »Majestät, bitte erlaubt mir zu sprechen. Als Mitglied Eurer Garde und als Euer ergebener Untertan.«
Kygo stieß zischend den Atem aus. »Ihr strapaziert diese Bindungen, Ryko.«
»Bitte, Majestät. Es dient Eurer Sicherheit.« Ryko sah mich rasch an, und die Feindseligkeit in seinem Blick traf mich wie ein Schlag gegen die Brust.
Kygo nickte. »Worum geht es?«
»Dass Lady Eona Euch die Wahrheit sagen wird, darauf kann man sich nicht verlassen.«
»Ryko«, flüsterte Dela neben ihm. »Nicht.«
Solly und Tiron hoben erwartungsvoll und aufmerksam den Kopf. Vida verharrte tief gebückt.
»Beschuldigt Ihr Lady Eona, sie sei eine Lügnerin?«, fragte der Kaiser.
»Ja.«
Kygo nickte. »Das ist ein berechtigter Vorwurf.«
Ich schlang die Finger schmerzhaft ineinander, um die Angst nicht so zu spüren. Kygo traute mir nicht. Er musste am Vorabend bemerkt haben, dass ich ihn anlog.
»Und einer, den Lady Eona selbst zugegeben hat«, fügte der Kaiser hinzu. »Das alles liegt in der Vergangenheit.«
Meine Anspannung ließ nach. Kygo sah sich mit einem beruhigenden Lächeln zu mir um.
»Aber es geht nicht nur um klare Lügen, Majestät.«
Ryko richtete sich aus seiner Verbeugung auf und ich funkelte
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