EONA - Das letzte Drachenauge
Vorgesetzten nachzuahmen. Ich bemerkte, wie Dela einen raschen Seitenblick auf Ryko warf; sie machte sich Sorgen um den Insulaner. Aber das ging mir nicht anders.
»Seit der Eroberung des Palasts«, sagte Kygo, »haben wir nur auf die Strategien meines Onkels reagiert. Jetzt ist es Zeit, dass wir handeln.«
Yuso nickte zustimmend.
»Sicher habt ihr die Veränderungen bei den Regenfällen und beim Wind bemerkt«, fuhr Kygo fort. »Ohne den vollen Kreis der Drachen und ihrer Drachenaugen ist unser Land nicht geschützt vor den Launen der Wetterdämonen oder vor dem Zorn der Erde.« Er blickte sich kurz zu mir um. »Auch Lady Eona kann die Kräfte der Erde nicht beherrschen. Sie hat keine Übung und darum kann sie ihre Macht im Moment nicht nutzen.«
Trotz seiner gleichmütigen Stimme beschämte mich die nüchterne Verkündung meines Versagens. Ich wagte nicht, den Blick über den Halbkreis vor mir schweifen zu lassen, doch ich spürte die Enttäuschung der sechs wie tausend Nadelstiche auf der Haut.
»Sie kann ihre Macht überhaupt nicht einsetzen, Majestät?«, fragte Yuso. Seine Bestürzung ließ mich zusammenzucken.
»Lady Eona braucht Übung«, erwiderte Kygo energisch. »Deshalb ziehen wir nun zum Palast und befreien Lord Ido.«
Niemand rührte sich. Ich hörte nur das Hämmern meines Herzens.
»Ido befreien?«, fragte Ryko schließlich und hockte sich auf die Fersen. »Ihr wollt diesen mordenden Mistkerl befreien?«
»Ja, wir müssen Lord Ido befreien.« Der leise Nachdruck des Kaisers war eine Warnung.
Ryko senkte den Kopf, doch er suchte in dem schweigenden Halbkreis mit dem Blick nach Unterstützung und fand sie.
»Majestät«, sagte Solly und verbeugte sich, »vergebt mir die offenen Worte, aber wir können uns dem Palast nicht nähern. Das ist zu gefährlich. Wir müssen uns mit dem Östlichen Widerstand treffen und dürfen uns nicht in ein aussichtsloses Unterfangen stürzen, das uns vom Ziel ablenkt.«
»Dieses Unterfangen ist keineswegs aussichtslos«, erwiderte Kygo kühl. »Zum Krieg gehört mehr als nur die Anzahl der Soldaten auf jeder Seite. Kriege werden aufgrund von fünf Prinzipien gewonnen oder verloren und der erste und wichtigste Grundsatz ist das Hua-do der Bevölkerung. Wenn deren Wille nicht übereinstimmt mit dem des Herrschers, wird er den Krieg verlieren.«
»Hoheit«, sagte Tiron zögernd, »ich bin wirklich dumm, denn mir ist nicht klar, wie die Befreiung Idos uns das Hua-do der Bevölkerung sichern soll. Schließlich wird er gefürchtet, nicht geliebt.«
Kygo blickte finster drein. »Das ist meine Entscheidung. Und es wird keine weitere Diskussion darüber geben.«
»Majestät«, bat ich, »darf ich Euch unter vier Augen sprechen?«
Ich wandte mich von den erstaunten Gesichtern vor uns ab und ging ein paar Schritte. Der Kaiser kam mit mir.
»Vielleicht möchtet Ihr ihnen Euren Gedankengang erklären«, sagte ich leise.
Er warf mir einen strengen Blick zu. »Erklären? Sie sollen meine Befehle befolgen. Disziplin ist das zweite Prinzip.«
»Sie werden Eure Befehle immer befolgen«, erwiderte ich. »Doch es wird leichter sein, wenn sie – wie Ihr sagt – mit Euch übereinstimmen. Wenn sie Eure Strategie verstehen.«
Er lächelte mich gequält an. »Ihr benutzt meine eigenen Worte, um mich zu beraten, Naiso, und schafft doch größere Weisheit.« Er packte mich an der Schulter. »Gewinnt ihr Hua-do und gewinnt den Krieg. Danke.«
Wir blickten beide auf seine Hand, die auf meinem nackten Schlüsselbein ruhte. Ich spürte, wie ich erneut errötete. Mit der anderen Hand tastete er nach der Perle an seinem Hals und auch bei ihm stieg die Röte von dort aus auf.
Unvermittelt kehrte er zu den anderen zurück. Ich wartete kurz, bis meine Röte nachgelassen hatte, und folgte ihm. Diesmal blieb es nicht unbemerkt, welchen Platz ich neben ihm einnahm. Dela atmete hörbar ein und sah mich an. Ich konnte ihre Miene nicht genau deuten. Sie war natürlich erschrocken, doch es lag noch etwas darin, eine Art Verwunderung.
»Es sind nur noch zwei Drachenaugen am Leben«, sagte Kygo. »Das eine ist hier«, er wies mit dem Kopf auf mich, »das andere wird von meinem Onkel gefangen gehalten. Unser Land ringsum wird erschüttert durch den Verlust der Drachenaugen, die es beschützt haben. Wir erleben bereits die durch unkontrollierte Monsunregenfälle verursachten Überschwemmungen. Die Getreideernte ist vernichtet und das wird zu Hungersnöten und Krankheiten führen. Doch es geht
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