EONA - Das letzte Drachenauge
gerichtet waren oder an mich. Vielleicht ja an uns beide. Dela blieb kurz vor ihm hocken und war hin und her gerissen zwischen ihrem eigenen Bedürfnis und seiner kochenden Wut. Ryko war ein stolzer Mann und er war gerade von einer Frau gefällt und von einem Contraire gerettet worden. Das würde er uns beiden nicht so schnell verzeihen.
Vida bewegte sich vorsichtig auf ihn zu und Ryko ließ sich von dem Mädchen dabei helfen, sich aufzurichten. Auf sein verkrampftes, dünnes Lächeln hin erhob Dela sich und ging ans andere Ende der Lichtung, weg von ihnen.
Kygo stand auf und bot mir seine Hand. »Wenn Ihr dazu in der Lage seid, reiten wir weiter. Je schneller wir Lord Ido befreien, desto schneller erlangt Ihr eine gewisse Kontrolle über diese Drachen.«
Ich nickte und ergriff seine Rechte und war doch entsetzt darüber, dass nicht die Drachen oder gar Kinra Ryko in den Staub gezwungen hatten.
Sondern ich.
Wieder wechselten wir ab zwischen kurzen Ritten und langen Strecken zu Fuß. Diesmal allerdings ging es zurück zum Palast, und wegen Sollys hervorragender Kenntnis der Wälder konnten wir uns stets in sicherem Abstand zu Straßen und Wegen halten. Nur einmal mussten wir eine Brücke über einen stark angeschwollenen Fluss nehmen. Wir konnten nicht riskieren, durch die reißende Strömung zu waten, und wagten uns stattdessen über eine glitschige, nur von Bauern benutzte Hängebrücke. Da die Fluten bloß eine Armeslänge unter mir dahindonnerten, musste ich meine ganze Nervenkraft zusammennehmen, um mich über die rutschigen, moosbedeckten Planken zu tasten. Auch die Pferde waren nicht scharf darauf, den Fluss zu überqueren. Jedes Pferd musste einzeln durch Sollys Einflüsterungen und Rykos eisernen Griff dazu gebracht werden.
Auf unserem Weg flussabwärts begleiteten uns schwere Monsunwolken. Das Grau über uns war wie eine erstickende Decke aus Hitze, doch bisweilen ging ein kälterer Luftzug, der den Schweiß kühlte und Regen und Erleichterung verhieß. Wegen des drohenden Wolkenbruchs verstärkten wir unsere Suche nach der Widerstandsgruppe, die sich laut Vida in dieser Gegend eingenistet hatte. Dort bekämen wir eine sichere Unterkunft, um die Regengüsse und Schlammlawinen abzuwarten, sagte sie. Und wichtiger noch: Dort würden wir Neuigkeiten über Sethons Armee erfahren.
Ryko meldete sich sofort freiwillig als Kundschafter, hielt sich den Großteil des Vormittags ein Stück vor uns und kehrte nur ab und an zurück, um Yuso Bericht zu erstatten. Dela versuchte nur einmal, mit ihm zu sprechen, doch wegen seiner kalten Höflichkeit verfiel sie in grimmiges Schweigen.
Wie zuvor ritt ich mit dem Kaiser und auf den langen, mühevollen Strecken zu Fuß lehrte er mich die Weisheit von Xsu-Ree. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass er die Zwölf Lieder der Kriegskunst auswendig lernte. Während wir uns nun durchs Unterholz schlugen, trug er sie mir im leisen Ton von Geheimnissen vor und ich hörte seine Stimme nur, wenn wir nebeneinander gingen und die Köpfe zusammensteckten. Jedes Lied war eine Abfolge von Weisheiten über ein bestimmtes Element der Kriegskunst. Ich verstand keines der Lieder ganz, doch einige regten meine Fantasie an: das Lied der Spionage mit seinen fünf Arten des Kundschaftertums und das Lied der Flammen, das von fünf Möglichkeiten erzählte, mit Feuer anzugreifen. Im Rhythmus von Kygos tiefer Stimme hörte ich den verräterischen Schritt von Doppelagenten und die Schreie derer, die bei lebendigem Leib verbrannten. Mit solchen Fähigkeiten hätte er ein großer Dichter sein können.
»Erinnert Ihr Euch noch an die fünf Prinzipien des ersten Lieds?«, fragte er nach seinem Vortrag.
Es war fast Mittag und wir gingen neben dem Fluss her, der hinter dichten Kiefern verborgen war. Das tief eingeschnittene Tal war inzwischen sanfter geworden und im buschigen Wald streiften viele langschwänzige Fasane herum. Heuschrecken zirpten in der Hitze und sprangen aus dem feuchten Gras, als wir vorbeigingen – ein gutes Omen, wie manche sagen. Kygo öffnete den Kragen seines Hemdes, ein Zugeständnis an die erdrückende Schwüle. Ich ertappte mich dabei, wie ich auf seinen langen Hals starrte, dessen weiche Haut unten durch grobe, verschorfte Stiche verunziert war, die die goldene Fassung der Perle kreisförmig umgaben. Ob Kinra oder die Erinnerung an die Liebkosung des Schmuckstücks meinen Blick lenkte? Diese Grenzen waren unscharf geworden.
Tiron ging ein Stückchen vor uns und führte
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