EONA - Das letzte Drachenauge
weit?«
Er hob den Kopf. »Lady Eona, ich kann nicht –« Er verstummte, und sein Blick verdüsterte sich. »Ich habe einen Sohn. Er heißt Maylon. Sucht ihn und sagt ihm –«
»Yuso.« Ich sah ihm in die Augen und blieb ganz ruhig, obwohl auch mich Zweifel plagten. »Ich werde nicht gehen, bevor Ihr aus diesem Loch heraus seid.«
Er nickte, biss die Zähne zusammen und begann wieder, sich Handbreit um Handbreit an der Stange entlang aus dem Schlamm zu ziehen. Ich tastete mich rückwärts, glich immer wieder sein Gewicht aus, fand einen Rhythmus zwischen seinen Griffen, sodass er jedes Mal einen wertvollen Schub bekam. Allmählich tauchte seine Brust, dann seine Taille auf. Als er die Hüften schließlich aus dem Sog des Schlamms bekam, ließ ich das Ji los, kroch auf allen vieren zu ihm, packte seine ausgestreckten Hände und zog ihn ganz aus dem Schlamm. In einer unbeholfenen Mischung aus Rutschen, Ziehen und Kriechen schafften wir es zurück auf festen Grund.
Yuso drehte sich zur Kante des Hanges um, betrachtete sie und stöhnte dumpf auf vor Erleichterung. »Noch hält sie, aber wir sollten lieber verschwinden.« Er stand auf und besah sich sein rechtes Bein. Ein langer Riss in der schlammverschmierten Hose auf Höhe des Oberschenkels war von dunklem Blut umrandet.
»Ist es schlimm?«, fragte ich.
Er tat meine Frage mit einem Kopfschütteln ab. »Ich kann gehen.« Er streckte mir eine Hand hin und zog mich hoch. Meine Beine zitterten vor Anstrengung. Und vor Furcht.
»Habt Ihr gesehen, was aus dem Kaiser geworden ist?«, fragte ich, während er mich führte. »Oder aus den anderen?«
Yuso schüttelte den Kopf.
»Was ist, wenn …?« Ich brachte den Gedanken nicht über die Lippen.
»Wenn Seine Majestät tot ist, dann ist alles aus«, sagte Yuso rundheraus und hob das Ji auf. »Dann gibt es keinen Grund mehr für einen Widerstand.«
»Aber Sethon darf nicht Kaiser werden. Er wird den Tausendjährigen Frieden zerstören.«
»Damit ist es so oder so vorbei«, erwiderte Yuso.
Mit der hakenförmigen Klinge des Spießes prüfte er den Boden und humpelte dabei zu dem toten Pferd und zu dem toten Soldaten. Ich wollte seiner düsteren Einschätzung widersprechen, doch der Schmerz in meiner Brust sagte mir, dass er recht hatte, und ich folgte seinen Fußstapfen durch den inzwischen etwas festeren Matsch.
»Habt Ihr gesagt, Ihr habt einen Sohn, Hauptmann?«, fragte ich, um mich von unserem quälend langsamen Vorankommen im Schlamm abzulenken.
Er drehte sich mit schmalen Augen zu mir um. »Es wäre für uns beide besser, Ihr vergesst, dass ich das gesagt habe.«
»Warum?«
»Weil den Soldaten der Kaiserlichen Garde familiäre Bindungen bei Todesstrafe verboten sind.« Er hielt meinem Blick stand. »Versteht Ihr? Niemand sonst darf von meinem Sohn wissen.«
Ich nickte. »Ich schwöre bei meinem Drachen, dass ich niemandem davon erzählen werde. Aber wie seid Ihr Vater geworden?«
Yuso machte sich wieder daran, uns sicher über den tückischen Boden zu führen. »Ich wurde nicht als Eunuch geboren, Mylady.« Er blieb bei dem Soldaten stehen und sah ihm in das leblose Gesicht. »Ich habe meinen Sohn gezeugt, bevor ich verschnitten wurde. Damals war ich sehr jung.«
Mit ein paar humpelnden Schritten war er bei dem Pferd, bückte sich und strich dem Tier über den schlammverschmierten Hals. »Das ist eine unserer Stuten – armes Mädchen.« Er blickte zur Hangkante hinauf, schätzte ihre Festigkeit, schnallte die Satteltasche ab und zerrte sie los. »Seine Mutter starb bei der Geburt – möge sie in der Herrlichkeit des Himmels wandeln. Also ist er meine ganze Familie.«
»Er muss Euch sehr viel bedeuten.«
»Inzwischen ist er Leutnant in Sethons Armee.«
Ich sah auf den Toten hinunter und ein Schauer lief mir über den Rücken. »Ist er in dieser Gegend stationiert?«
Yuso stieß das Ji in den Schlamm.
»Ich weiß nicht, wo er ist.« Er schlang sich die Satteltasche über die Schulter. »So ist dieser Krieg: Vater gegen Sohn, Bruder gegen Bruder.« Er betrachtete prüfend die kahle Landschaft, wies nach Osten und winkte mich weiter. »Es ist unsere Pflicht, den Frieden so schnell wie möglich wiederherzustellen – egal, um welchen Preis. Sonst gibt es kein Land mehr zu regieren.« Er sah sich um, und sein schmales Gesicht wirkte düster. »Ihr werdet das eines Tages erkennen, Mylady, und das tut mir sehr leid.«
Wir stiegen gerade die andere Seite der Schlucht hinauf, als die Hangkante
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