EONA - Das letzte Drachenauge
Befehlshaber des Widerstands in den Chikara-Bergen.« Er wies auf seinen Begleiter. »Das ist Sanni, mein Leutnant. Wir sind erleichtert, Euch gefunden zu haben, Mylady. Und Euch, Hauptmann Yuso.«
»Danke«, sagte ich. »Wo ist Seine Majestät?«
»In unserer Haupthöhle, Mylady. Die Flehenden beten schon, seit er hier ist, aber wir haben auf Euer Kommen gewartet, damit Ihr ihn behandelt.«
»Ihr habt auf mich gewartet?« Ryko musste ihnen von dem Fischerdorf erzählt haben. Über meine Kopfhaut lief ein Kribbeln vor Schuld und Scham. Sie warteten auf mich, das mächtige Drachenauge, auf dass ich den Kaiser heilte. Aber das durfte ich nicht noch einmal wagen. Ich wollte keine unschuldigen Menschen mehr töten. Und ich wollte ganz bestimmt keine Macht über den Willen des Kaisers.
»Ich kann ihn nicht heilen«, sagte ich. »Das müsst Ihr verstehen – ich kann ihn nicht heilen.«
»Natürlich nicht, Mylady. Wir erwarten nicht, dass Ihr ärztliche Kenntnisse habt«, erwiderte Viktor stirnrunzelnd. »Das Mädchen Vida hat uns erzählt, dass Ihr nun der Naiso Seiner Majestät seid. Stimmt das etwa nicht?«
»Doch, das stimmt.«
»Dann seid Ihr die Einzige, die seinen ehrwürdigen Körper berühren darf. Unser Arzt muss durch Euch arbeiten.«
Ich biss mir auf die Lippen. Sie wollten nur, dass ich ihnen dabei half, ihn zu untersuchen. Das konnte ich tun.
»Dann gehen wir zu ihm«, sagte ich.
Viktor führte mich zu einer in den steilen Hang geschlagenen Treppe. »Indem meine Männer Seine Majestät herbrachten, haben sie seine Unantastbarkeit schon verletzt. Es sind anständige, pflichtbewusste Männer, Mylady, und ihr Tod hätte keinen Sinn. Ich bitte Euch, ihnen zu vergeben.«
Bei diesen Worten erfasste mich ein Unbehagen. Die Stellung als Naiso brachte unerwartete Verantwortlichkeiten mit sich. »Ihnen ist vergeben«, erwiderte ich rasch.
Er senkte den Kopf. »Danke, Mylady.«
Alles in mir wollte zu der Höhle rennen und Kygo helfen, doch der Andrang der jubelnden Menschen, die meinen Weg durch den Krater säumten, erlaubte nicht mehr als ein zügiges Gehen. Erst wich ich den aufgeregten, staunenden Gesichtern und den Händen aus, die sich mir entgegenstreckten und mich berühren wollten. Sie hatten noch nie ein leibhaftiges Drachenauge gesehen, geschweige denn ein weibliches Drachenauge. Yuso versuchte, sich zwischen mich und ihre verlangend ausgestreckten Hände zu schieben, und seine mit rauer Stimme ausgestoßenen Mahnungen gingen in den Rufen meines Namens unter. Dann übertönte eine tiefe Stimme alle anderen. »Mögen die Götter Lady Eona beschützen. Mögen die Götter Seine Majestät beschützen.« Ich entdeckte den, der das gerufen hatte, über den vielen Köpfen. Es war ein Mann mittleren Alters, dem die Tränen in den Augen standen. Endlich verstand ich.
Ich war ihr Symbol der Hoffnung, ihr Unterpfand dafür, dass die Götter sie nicht im Stich gelassen hatten. Obwohl ich einer solchen gläubigen Verehrung nicht würdig war, musste ich das sein, was sie brauchten. »Weg da«, sagte ich zu Yuso, und widerstrebend trat er hinter mich zurück. Ich straffte die Schultern, ging weiter und strich mit den Fingern über die Hände, die sich mir entgegenstreckten und sich von der Berührung Hoffnung und Rettung ersehnten.
Schließlich erreichten wir die Haupthöhle. Auf einer Seite war ein Altar errichtet, vor dem zwei Flehende knieten, deren baumelnde Laternen Muster an die dunklen Felswände warfen. Links und rechts des Eingangs standen wie Wachsoldaten zwei große Weihrauchfässer aus Messing, und die weißen Rauchfahnen verströmten den ebenso würzigen wie reinigenden Duft von Nelken. Die Jubelrufe wurden leiser, als wir am Altar vorbeigingen. Ich erblickte kreisförmig vor den Gebetskerzen angeordnete Blutsteine und ein Zeremonienschwert. Der Schrein war zu Ehren des Schlachtengottes Bross errichtet worden. Eine gute Wahl. Als wir die Höhle betraten, sandte auch ich dem Kriegsgott ein stilles Gebet um Kygos Gesundung.
Ich hielt kurz inne, um die Ausdehnung der Höhle auf mich wirken zu lassen. Sie war mindestens so groß wie ein riesiger Saal, doch das dämmrige Licht, die hohe, mir schemenhaft wahrnehmbare Decke und die vielen Menschen, die in der Höhle umherspringen, ließen ihre wahren Ausmaße verschwimmen. Besorgtes Murmeln hallte von den Felswänden wider. Nur ein Bereich war frei, eine Ecke ganz hinten, die mit einem großen fünfflügeligen Wandschirm im herrlichen Shoko-Stil
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