EONA - Das letzte Drachenauge
nachgab.
Sie stürzte mit einem krachenden Tosen ab und das furchtbare Geräusch hallte von den Felswänden als umlaufendes Echo wider. Wir blieben stehen und sahen zu, wie der tödliche Wirbel aus Schlamm und Schutt durch den Talgrund schoss, alles unter sich begrub und den Gestank von nasser Erde und Verwesung aufsteigen ließ.
Ich spürte, wie Yuso mich mitleidig an der Schulter fasste. »Wir können nicht zurück und nachsehen«, beantwortete er meine ungestellte Frage. »Das wäre zu gefährlich. Und alles, was mit dieser Lawine abgestürzt ist, ist längst tot.«
»Wir haben überlebt«, erwiderte ich aufbegehrend.
»Sorgen wir dafür, dass es so bleibt«, sagte er, und sein mitleidiger Griff bekam etwas Herrisches.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit packte Yuso mich erneut an der Schulter.
»Halt!«, flüsterte er, doch er war bei dem abendlichen Gezwitscher der Vögel kaum zu verstehen.
Ich raffte meine letzten Energiereserven zusammen, blickte angespannt über die dürren Bäume und die hohen Sträucher ringsum, die im Zwielicht alle so bedrohlich wirkten, und nahm die Satteltasche fester in die Hand. Es war keine besonders gute Waffe, aber das Ji eines Soldaten konnte sie abwehren.
Wie aus Abendschatten geformt, traten die Umrisse von sechs Männern aus dem dunklen Unterholz. Schweigend umringten sie uns und hatten Schwerter oder Äxte gezückt. Yusos Hand glitt am Ji hinab, zum Zustoßen bereit.
»Wer seid ihr?«, fragte er.
Ein dünner Mann mit gewaltiger Mähne schüttelte den Kopf. »Sechs gegen zwei.« Seine Stimme hatte einen leichten Gebirgsakzent. »Die Frage ist wohl eher: Wer seid Ihr ?«
»Hauptmann Yuso von der Kaiserlichen Garde.«
Bei der Nennung seines Namens horchten die Männer auf. Ich spürte, wie sie sich zu mir wandten, und fasste die Satteltasche noch ein wenig fester.
»Seid Ihr Lady Eona?«, fragte der Dünne.
»Ja.«
»Ihr seid am Leben – den Göttern sei Dank.« Ein schnelles, erleichtertes Lächeln entblößte seine Zähne und um uns herum wurden die Waffen gesenkt. »Wir sind vom Widerstand der Chikara-Berge. Ich heiße Caido. Es ist uns eine Ehre, Euch gefunden zu haben, Lady Drachenauge.«
Er verbeugte sich und die fünf anderen folgten seinem Beispiel.
»Danke«, sagte ich und ich schwankte, als meine Anspannung so plötzlich nachließ. »Habt ihr den Kaiser gefunden?«
»Ja. Er lebt, aber er ist tief in der Schattenwelt. Als wir unseren Stützpunkt verließen, war er noch immer nicht erwacht. Wir müssen Euch möglichst rasch zu ihm bringen.«
Mein Bauch zog sich zusammen. Wenigstens lebte er. »Und die anderen? Sind sie wohlauf?«
»Ryko hat leichte Verletzungen. Genau wie die Frau, Vida. Der junge Gardist hat –«
»Tiron«, unterbrach ihn Yuso.
»Ja, Sir, Tiron«, erwiderte Caido. »Er hat viele Knochenbrüche und kann möglicherweise nie wieder gehen. Die anderen haben wir noch nicht gefunden.«
Dela, Dillon, Solly – vermisst.
»Den Jungen habt ihr also nicht entdeckt?«, fragte Yuso. »Diesen Dillon?«
»Nein, Sir. Noch nicht.«
»Um den müsst Ihr euch vordringlich kümmern«, sagte Yuso. »Er hat etwas in seinem Besitz, das für das Anliegen Seiner Majestät wesentlich ist.«
»Wir können ihn nur bei Tageslicht suchen, Hauptmann.« Caidos leise Stimme klang ein wenig trotzig. »Aber wir machen morgen in aller Frühe weiter. Seid Ihr oder Lady Eona verwundet?«
»Nichts Ernstes«, entgegnete Yuso. »Hat Ryko euch von den Truppen erzählt, die uns verfolgt haben? Vierundzwanzig Mann – eine ganze Kompanie.«
Caido nickte. »Wir haben neunzehn gezählt, Sir – die meisten von ihnen sind ertrunken. Unsere besten Mannschaften jagen die letzten fünf.«
Yuso nickte befriedigt.
Caido machte wieder eine knappe Verbeugung und wandte sich seinen Männern zu. Auf eine rasche Folge von Handzeichen hin stellten sie sich rautenförmig um uns herum auf. Nur ein sehr groß gewachsener Mann blieb stur hinter Caido stehen.
»Mylady, wir müssen schnell vorankommen«, sagte Caido. »Würdet Ihr Shiri erlauben, Euch auf dem Rücken zu tragen?« Der Hüne senkte den Kopf.
Obwohl die Müdigkeit zentnerschwer auf mir lag, raffte ich mich auf. »Ich werde schon nicht zurückfallen, Caido.«
»Sehr wohl, Mylady«, sagte er und verbeugte sich.
Dann winkte er uns vorwärts.
Eine Stunde später hockte ich auf Shiris Rücken. Der Mann roch nach altem Schweiß und fettigem Haar, doch das war mir gleich. Sein Rücken war breit, seine Arme waren fest um mich
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