EONA - Das letzte Drachenauge
sinken.
Ich weichte ein zweites Tuch ein und wrang es aus. Um der Ausgewogenheit willen hätte ich nun seinen Mondarm waschen müssen, doch stattdessen zog es mich zu seinem Gesicht. Ob auch ich in meiner Ohnmacht so heiter gewirkt hatte? Ich konnte mich an nichts erinnern aus der Schattenwelt, obwohl ich mich zwei Tage lang dort aufgehalten hatte. Vielleicht lebte Kygo nun ein anderes Leben, in dem er einfach nur ein Mann war, nicht die Hoffnung eines Reiches. Ob das der Grund war, warum er nicht zurückkehren wollte? Ich konnte die Erleichterung verstehen, eine solche Bürde abzuwerfen. Vorsichtig wischte ich ihm über die breite Stirn und unter den Augen entlang, wobei ich der Meridianlinie an den Wangenknochen folgte. Sein Gesicht hatte ausgeprägte, klare Konturen. Wenn ich noch Papier und Zeichentinte gehabt hätte, dann hätte ich ihn mit ein paar kühnen Strichen darstellen können. Doch ich bezweifelte, dass mein geringes Talent der Harmonie seiner Züge gerecht geworden wäre.
Ich hielt inne und bedachte das Problem seiner zerbissenen Unterlippe. Wenn ich das Blut wegwischen würde, könnte die Wunde wieder zu bluten anfangen. Behutsam tupfte ich seine zarten, vollen Lippen mit dem feuchten Tuch ab, um keinen Druck auszuüben. Seine Mundwinkel waren von Natur aus nach oben gebogen oder vielleicht lächelte er ja in der Schattenwelt jemandem zu.
Zwei Männer hatten mich bisher geküsst: der Auspeitscher in der Saline, ehe Dolana eingeschritten war und sich ihm angeboten hatte, damit ich verschont blieb. Und Ido. Ich presste die Lippen aufeinander und erinnerte mich, dass er süßlich nach Vanille und nach Orange geschmeckt hatte, der Essenz seines Drachen. Keiner der beiden Küsse war mir willkommen gewesen – aber schließlich war den beiden Männern auch nicht daran gelegen, willkommen zu sein. Sie hatten sich einfach genommen, was sie haben wollten.
Ich beugte mich weiter zu Kygo hinunter und spürte seinen Atem federleicht an meinem Mund. Wenn ich mit meinen Lippen über die seinen striche, würde er das in der Schattenwelt spüren? Der erdige Geruch des Ginseng stieg von seiner warmen Haut auf und nistete sich tief in mir ein. Der Arzt hatte gesagt, Kygo würde sich nach seiner Rückkehr aus der Schattenwelt an seine Schmerzen nicht erinnern. Ob es mit seinen Freuden genauso wäre? Ich hatte den Rhythmus seines Atems aufgenommen und ich spürte, wie die Farben um uns herum verschwammen und wie ich sanft und tranceartig auf die Energieebene hinüberglitt. Einen Moment lang war mein Mund über ihm und unser Atem mischte sich. Durfte ich mir nehmen, was ich haben wollte?
Ich wich zurück, beschämt über meine Anwandlung. So ein Verhalten wäre schändlich. Ich wäre nicht besser als der Auspeitscher oder als Ido. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, den seltsamen Rest von Macht loszuwerden. Ich hatte nicht in die Energiewelt wechseln wollen. Selbst das bisschen Kontrolle, das ich noch hatte, schien mir zu entgleiten.
Ich nahm ein weiteres Tuch aus dem Wasser und war so unruhig, dass ich es zu fest auswrang. Ich brauchte Hilfe, und zwar bald, doch jetzt war nicht die Zeit, bei meinen Fehlern zu verweilen. Wild entschlossen und konzentriert wusch ich Kygos verletzten Kiefer und der weiche Stoff blieb an seinen dunklen Stoppeln hängen. Mit einem weiteren Tuch wusch ich seinen langen, kräftigen Hals und hielt dicht oberhalb der Kaiserlichen Perle inne. Schlamm hatte sich in der goldenen Fassung und in den halb verheilten Stichen festgesetzt, die sie in der Grube zwischen den Schlüsselbeinen hielten. Die Perle selbst war makellos, und noch immer ging von ihr der Druck auf meinen Schädel aus.
Langsam bereitete ich ein weiteres Tuch vor, den Blick auf die schimmernde Perle geheftet. Ich wagte nicht, sie vom Schlamm zu säubern. Meine Begegnung mit dem schwarzen Buch hatte mich gelehrt, dass Kinras Erbe stark und immer stärker in mir fortwirkte. Und Kinra wollte die Perle, egal, um welchen Preis. Ich zog den Beutel mit den Totentafeln aus dem Gewand und legte ihn behutsam neben die Waschschüssel. Weg von mir, nur für den Fall.
Mit dem frischen Tuch wusch ich Kygos Brust und achtete darauf, mich ganz auf den lebenswichtigen Zentralmeridian an seinem Brustbein zu konzentrieren. Doch ich sah die Perle aus den Augenwinkeln und sie zog meinen Blick mit ihrem Leuchten langsam höher, bis ich in ihre schimmernden Tiefen schaute und silbrige Bewegungen darin erkennen konnte.
Hitze durchströmte mich
Weitere Kostenlose Bücher