EONA - Das letzte Drachenauge
Lächeln erlosch. »Ryko hat mir erzählt, dass Dillon und das schwarze Buch vermisst werden und der Kaiser jeden tauglichen Mann ausgeschickt hat, nach ihnen zu suchen.«
»Seine Majestät hat entschieden, es sei wichtiger, das schwarze Buch zu finden, als Ido zu retten.«
»Nun, da täuscht er sich.« Dela beugte sich vor. »Ich habe viele Stunden unter diesem Baum festgesteckt. Immer wenn ich mich befreien wollte, hat das meine Lage nur verschlimmert. Ich hätte mich fast bei lebendigem Leib im Matsch begraben.« Sie erschauerte. »Um meinen Verstand zusammenzuhalten, habe ich versucht, mehr von dem Buch Eurer Vorfahrin zu entschlüsseln.«
»Und habt Ihr etwas entdeckt?«
Dela fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen. »Ich glaube, ich habe zwei in Geheimschrift verfasste Doppelverse auf der ersten Seite geknackt.«
»Was steht darin? Zeigt es mir.« Ich zerrte an den Perlen. Die Schnur gab nach und glitt mit dem Buch in meine Hand. Ich öffnete den roten Ledereinband, überblätterte die Seite mit dem eleganten Drachen und schlug die erste Seite mit Frauenschrift auf.
»Hier.« Dela wies auf die verblassten Schriftzeichen. »Wenn ich recht habe, heißt das:
›Die Sie von den Drachen kehrt zurück und steigt auf,
Wenn der Kreis der Zwölf beschließt seinen Lauf …‹
Ich hob den Kopf. »Beschließt? Sind damit die Drachen gemeint?«
»Das ist noch nicht alles.« Delas Fingerspitze glitt an der Seite hinunter.
›Die Sie von den Drachenaugen macht neu und bewacht,
Wenn das Hua Aller Menschen bezwingt die dunkle Macht.‹
Ich starrte auf die anmutige Kalligrafie und versuchte, ihre Bedeutung herauszubekommen, obwohl mir längst nicht von allen Schriftzeichen der Sinn klar war. »Wiederholt den ersten Doppelvers«, bat ich.
Dela tat, wie sie geheißen.
»›Die Sie von den Drachen‹ ist der Spiegeldrache, da es nur einen weiblichen Drachen gibt«, sagte ich langsam. »Und sie ist nun zurückgekehrt und ist aufgestiegen.« Ich schaute Dela in die Augen, nicht gewillt, die Bedeutung der nächsten Zeile auszusprechen.
»Ihre Rückkehr bedeutet, dass die Macht der Drachen endet«, ergänzte sie leise.
Ich wollte die Ungeheuerlichkeit dieser Weissagung leugnen und schüttelte den Kopf. Mit der Macht der Drachen würde auch meine Macht enden, noch bevor ich sie je wirklich ausgeübt hätte. Es würde keine ruhmreiche Verbindung mit dem roten Drachen geben. Kein Rang. Kein Wert. Ich wäre einfach wieder nur ein Mädchen. Ich wäre nichts. Nutzlos.
»Das kann nicht sein«, flüsterte ich.
»Das Land ist in Aufruhr«, erklärte Dela, »und es gibt zehn Drachen ohne Drachenaugen.«
»Aber das beweist nicht, dass ihre Macht endet«, protestierte ich. »Der Spiegeldrache ist zurückgekehrt, bevor Ido die Drachenaugen getötet hat.«
»Dann ging die Macht der Drachen vielleicht schon zu Ende, bevor Ido die Drachenaugen ermordet hat. Und Ihr könnt nicht leugnen, dass das Land in Gefahr ist.«
Ich schlug die Hände vors Gesicht und versuchte, die erschreckenden Möglichkeiten auszuloten und doch einen Grund zu finden, den Wahrheitsgehalt von Kinras Warnung zu leugnen. Doch ich kam nicht um den ersten Doppelvers herum: Der Spiegeldrache war zurückgekehrt und stieg auf, und das bedeutete, dass die Drachenmacht zu Ende ging.
»Wie lautete der zweite Doppelvers?«
Dela las ihn noch einmal vor.
»›Die Sie von den Drachenaugen‹ – das muss ich sein«, sagte ich mit wachsendem Unbehagen. »Es heißt, ich könne neu machen und bewachen – kann ich also verhindern, dass die Drachen ihre Macht verlieren?«
Doch wie sollte ich so etwas aufhalten? Die Unerfüllbarkeit der Aufgabe war wie eine riesige Hand, die alle Hoffnung, allen Mut aus mir herausquetschte.
»Ich bete, dass es so gemeint ist«, erwiderte Dela und tippte auf ein Zeichen, dessen spitze Winkel in hässlichem Gegensatz zur sonst so fließenden Kalligrafie standen. »Was ist die dunkle Macht? Gan Hua?«
»Wahrscheinlich.«
»Was ist dann das ›Hua Aller Menschen‹?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich düster. »Aber es klingt endgültig.«
Ich schlug das rote Buch zu, als verschwände mit den Worten auch die erdrückende Last ihrer Bedeutung. »Mir graut davor, was Ihr als Nächstes finden werdet, aber wir müssen noch mehr in Erfahrung bringen.« Ich hielt Dela das Buch hin und sie nahm es mit einem knappen Nicken an sich.
»Wenigstens wissen wir nun, dass wir Gewalt über das Gan Hua bekommen müssen.« Dela stand auf und
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