Epicordia
liegen.
»Lee«, rief Lara voller Panik aus und stürzte zu dem
gefallenen Freund, alles andere vergessend. »Lee!«
Sie versuchte krampfhaft, sein Bewusstsein zwischen
Chaos und Schmerz wiederzufinden, schüttelte ihn, ohrfeigte ihn.
Sie hoffte und
flehte, dass der Krankenwagen endlich kommen möge, und dachte an die besonnene Stimme am Telefon.
Jemand hatte dort gesprochen, der nicht verletzt war, der nur seinen Job
machte, derâ⦠Nein, das war unfair. Tausend Bilder aus Unfairness und
Schuldzuweisung, aus Panik und Asche huschten durch Laras Kopf wie ein zu
schnell geschnittener Film. Doch das Bild, das für alle Zeit in ihrem Kopf
verbleiben sollte, war ein anderes: Sie kniete auf dem Boden, Lees Kopf auf ihren
Schoà gebettet. Die Ladentür hatte sie aufgelassen, damit man sie fand. Die
laue Luft der Sommernacht wehte herein, doch Lara fröstelte trotz der Wärme.
Immer wieder blinzelte Lee, doch er schaffte es einfach nicht, sie anzublicken,
und immer wieder fielen seine Augen zu und er wurde erneut bewusstlos. Endlich
stürmten die Rettungskräfte in den Laden.
Für andere da zu sein, einfach bloà da zu sein, war
wichtig, hatte Lara gelernt. Und genau so wichtig war es, dass jemand für einen
selbst da war.
Henry McLane war angekommen, noch während Lee im
Krankenwagen eine erste Versorgung erfuhr. Er hatte sich seiner Enkeltochter
angenommen, die ihn nun brauchte.
Es schien nicht lebensbedrohlich ernst um Lee zu
stehen, doch auf einige Tage im Krankenhaus durfte er sich wohl gefasst machen
â ganz zu schweigen von dem unangenehmen Heilungsprozess, der ihm bei seiner
verbrannten Hand in den nächsten Monaten bevorstand.
Nun blickte Lara über die Schulter in die sorgenvolle
Miene ihres GroÃvaters.
»Grausam ist eigentlich noch ein viel zu milder
Ausdruck«, betonte sie.
Henry nickte ernst.
»Komm«, meinte er
bedächtig. »Wir gehen hoch und reden.«
Wie praktisch wäre die Welt, wenn sich alle
Sorgen und Nöte, alle Ãngste und Hilflosigkeiten hinfortdiskutieren lieÃen.
Einfach wegreden, mit Worten, die wie warmes Wasser über geschundene Haut
rannen.
Doch so war es leider nicht. Das Wasser fehlte â und
die Worte häufig auch.
Sie saÃen in Baltasar Quibbesâ altem Wohnzimmer. Lee
hatte nicht viel verändert, seit er hier eingezogen war. Warum sollte er auch?
Er besaà so gut wie nichts und war dankbar für alles, was Tom ihm ohne Weiteres
überlassen hatte.
Die Couchgarnitur war mit einem Polsterbezug in
vergilbtem Grün versehen. Doch er war flauschig und man konnte dort gut hocken,
die Beine angewinkelt an den Körper gezogen.
Henry hatte ein Album von Eagle Eye
Cherry gefunden und es aufgelegt. Leise Musik, die nicht kompliziert
war, die vielleicht ein wenig mehr Leichtigkeit heraufbeschwören konnte. Eine
gute Wahl. Aber was hätte man erwarten können? Henry McLane war lange Zeit
Musiker gewesen und Lara kannte niemanden, der mehr Ahnung von Musik besaà als
er.
Er stellte zwei Tassen heiÃen Tee auf den Couchtisch
zwischen ihnen.
»Also?«, fragte er schlieÃlich.
Lara lieà einen Schluck des heiÃen schwarzen Tees ihre
Kehle hinunterrinnen. Sie hatte vergessen, Zucker hineinzutun. Egal, Wärme tat
ihr gut gegen die Kälte, die sich trotz der Sommerluft in ihr breitmachte.
Und schlieÃlich begann sie zu erzählen. Alles, jede
kleinste Kleinigkeit, die sich in den letzten Stunden und Tagen zugetragen
hatte. Und Henry McLane hörte ihr zu. Nicht auf jene pflichtbewusste Art und
Weise, wie ein Seelsorger es tun mochte, nein, wärmer, ehrlicher. Er war nun
einmal ihr GroÃvater. Der Rest Familie, der ihr noch geblieben war. Und Blut
war bekanntlich dicker als Wasser.
Nachdem sie geendet hatte, blickte Henry
McLane lange Zeit in seine leere Teetasse. Lara sah all die Gedanken in seinen
Augen schwimmen.
»Ist es wahr?«, stellte
Lara schlieÃlich die alles entscheidende Frage, vor deren Antwort sie sich
fürchtete wie vor wenig sonst auf der Welt.
Henry sagte immer noch nichts. Er lehnte sich zurück
und starrte an ihr vorbei, eine ganze Weile lang.
SchlieÃlich holte er Luft.
»Ich weià es offen gestanden nicht wirklich«, gab er
zu, und seine Augen trafen die seiner Enkeltochter. Lara konnte die
Aufrichtigkeit darin schimmern sehen.
»Warum nicht?«, wollte sie wissen. Es klang beinahe
schon verzweifelt. »Du bist
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