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Epicordia

Epicordia

Titel: Epicordia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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doch genauso alt wie sie, sie –«
    Â»Lara«, unterbrach er sie sanft. Ȇberleg doch einmal:
Kennst du jeden Menschen, der in Ravinia ein und aus geht? Oder noch weiter gefasst: Kennst du jeden, der mit
Ravinia in irgendeiner Weise in Verbindung steht? Ich kannte deine
Großeltern mütterlicherseits überhaupt nicht, bevor Arthur uns einander
vorgestellt hat.«
    Auf Lara wirkte es jedes Mal bewundernswert, wenn
Henry McLane aus der Vergangenheit erzählte. Diesem alten Mann waren so viele
schlimme Dinge angetan worden und dennoch schaffte er es, ohne das kleinste
Anzeichen von Selbstmitleid darüber zu reden, als wäre es eine Geschichte in
irgendeinem beliebigen Buch oder Film.
    Â»Das heißt«, verbesserte er sich, »Abraham Joel habe
ich gar nicht erst kennengelernt, der war nämlich schon verstorben zu dieser
Zeit. Aber eigentlich war es ganz nett dort. Die Joels hatten ein Haus in
Aviemore, einem Örtchen am Spey. Aber alles in allem wirkten sie auf mich in
ihren gutbürgerlichen Gefilden durchaus sehr gut beheimatet. Elisabeth Joel
machte auf mich schon beinahe einen biederen Eindruck. Aber das war lange nach
der fraglichen Zeit. Erst, als Arthur und Layla sich verlobt hatten. Zuvor habe
ich sie wirklich nicht gekannt.«
    Er seufzte und überlegte, was er als Nächstes sagen
sollte.
    Â»Roland Winter«, sprach er
schließlich weiter, und die Worte schienen in der
Sommernacht zu Eiskristallen zu gefrieren, »muss in etwa so alt gewesen sein
wie wir. Also dieselbe Generation wie deine Großeltern. Er kann anfangs auch
nicht besonders bekannt oder berühmt in Ravinia gewesen sein, denn sonst hätte man
viel mehr von ihm gehört. Sein Name kursierte erst in aller Munde, nachdem er
öffentlich die Stadt und den Stadtrat
attackiert hatte. Er muss seine wahren Talente und Absichten also lange
unter Verschluss gehalten haben. Erst wollten viele Leute in Ravinia es gar
nicht wahrhaben, sondern dachten eher, er würde sich bloß als Reformer
aufspielen. Doch seine Methoden … na ja, ich denke, du weißt inzwischen darüber
Bescheid.«
    Henry fing den Blick seiner Enkelin wieder mit seinem
eigenen auf.
    Â»Wenn du mich also fragst, ob Roland Winter und
Elisabeth Joel einst eine Liaison oder sogar eine richtige Beziehung gehabt
haben könnten, so muss ich dies leider mit Ja beantworten.«
    Er seufzte.
    Â»Ich weiß nicht, was deine
Großmutter vor ihrer eher beschaulichen Zeit in Aviemore gemacht hat. Nur, dass
sie eine Weile in Ravinia gelebt und gearbeitet hat, das hatte sie erwähnt. Wir
haben bloß Small Talk geführt, wir waren keine engen Freunde.
    Aber wenn sie in ihrer Jugend in Ravinia war, dann
liegt es wohl im Bereich des Möglichen, dass sie Roland Winter gekannt hat. Das
Ganze müsste dann ja so in etwa 40 bis 50 Jahre her sein, wenn nicht gar noch
länger.
    Und wenn Ma’Haraz behauptet, dass Roland Winter es
geschafft habe, Elisabeth vorletztes Jahr auf dem Highgate-Friedhof aufzuspüren,
weil er sie einmal liebte, so hat das in meinen Augen leider schon eine gewisse
Logik.«
    Skeptisch blickte Lara ihn an und machte den Mund auf,
ohne zu wissen, was sie eigentlich antworten sollte.
    Â»Lass mich erklären!«, fuhr Henry fort, bevor seine
Enkelin zum Protest ansetzen konnte. »Die Liebe zwischen zwei Menschen ist eine
seltsame Sache, Lara. Zwischen Eltern und Kindern und auch zwischen Großeltern
und Enkeln existiert sie fraglos. Zumindest, solange alles seinen natürlichen
Weg läuft. Aber zwischen zwei sich fremden Menschen ist sie ein wenig wie ein
eigenwilliger Zauberspruch, sobald sie entflammt ist. Gefühle, die zwei
Liebende einmal füreinander empfunden haben, hinterlassen immer Spuren auf der
Seele der Betroffenen. Egal, ob diese Liebe fortwährt oder nur von kurzer Dauer
ist. Und diese Spuren sind unverwüstlich. Sie verändern sich im Laufe eines
Lebens, werden zu Narben oder Blüten oder was auch immer, doch sie bleiben
letztlich immer da.
    Als ich in Ravinia gelernt habe, hat man uns eine
immense Vorsicht eingebläut. Eine Vorsicht vor Liebesliedern. Sie können sich
an das unsichtbare Band zwischen zwei Liebenden heften wie eine Klette. Man
wird sie nicht mehr los. Jemand, der lange nach einer schmerzhaften Trennung
ein Lied wieder hört, das vielleicht einmal in einer Beziehung von Bedeutung
gewesen ist, dem wird es unweigerlich am Herzen

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