Epsilon
Susan zog einen Stuhl von der Wand vor den Schreibtisch und setzte sich. Obwohl sie nun auf einer Augenhöhe waren, gelang es dem Unbekannten, den Anschein der Überlegenheit aufrechtzuerhalten, indem er seinen Kopf noch weiter in den Nacken legte und Susan herablassend anblickte. »Ich warte noch immer auf eine Antwort, Dr. Flemyng.«
»Die Antwort lautet, dass ich weiß, was Sie hier treiben. Und bald wird es auch der Rest der Welt wissen. Mehr haben wir uns, glaube ich, nicht zu sagen, Mr…. wer auch immer Sie sind. Die Presse wird das zweifellos herausfinden.«
Der Mann seufzte, als wolle er erneut demonstrieren, wie leer ihre Drohungen waren. »Die Zeitungen werden schweigen, Dr. Flemyng. Auch das Fernsehen. Alle Medien werden schweigen.«
»Ich frage mich, wieso Sie da so sicher sein können.«
Als Antwort blickte er an ihr vorbei zur Tür. Susan spürte, dass jemand den Raum betreten hatte, ohne dass sie es gehört hatte. Sie drehte sich um.
Hinter ihr stand ein Mann. Er trug einen offenen Astrachan-Mantel über einem teuren Anzug und schlug sich mit einem Paar weicher schwarzer Lederhandschuhe beinahe stutzerhaft in die Hand.
Es war Latimer West.
Der Raum, in den sie übergewechselt waren, war erneut ein klein wenig komfortabler als der vorhergehende. Die Sessel und der Barschrank erinnerten Susan an eine Besucher-VIP-Lounge, obwohl sie keinerlei Zweifel hegte, dass nicht sie, sondern West der wichtige Gast war.
»Wir werden uns auf zivilisierte Art und Weise unterhalten, Susan.« Er bot ihr einen Drink an, den sie jedoch ablehnte. »Ich kann mir vorstellen, was Sie denken und wie Sie sich fühlen«, fuhr er fort. »Dennoch bin ich mir sicher, dass ich Sie davon überzeugen kann, die Dinge in einem anderen Licht zu sehen.«
»Sie haben meinen Mann ermordet. Nennen Sie das vielleicht zivilisiert? Glauben Sie wirklich, Sie können mich überzeugen, das in einem anderen Licht zu betrachten?«
Er sah sie mit einem Armesünderblick an. Susan fragte sich kurz, ob das Bedauern, das darin lag, dem Verbrechen galt, das er begangen hatte, oder ihrem schlechten Geschmack, ein solches Thema überhaupt zur Sprache zu bringen.
»Ich bin für solche Dinge nicht verantwortlich, Susan. Ich treffe keine unwiderruflichen Entscheidungen. Ich bin das, was ich immer war – ein Verwalter.«
»Und Sie glauben, das erhebt Sie über das Gesetz? Oder jede Überlegung, was richtig und was falsch ist?«
Er seufzte und nickte nachdenklich, als hätte er volles Verständnis für ihre Worte. »Sie wissen, dass Ihre Arbeit, wie Sie es nennen würden, ›missbraucht‹ wurde. Aber Sie wissen auch, dass Sie nicht die Erste sind, der solches widerfährt. Es wäre in der Tat geheuchelt, vorzugeben, dass Ihnen die Möglichkeit eines solchen ›Missbrauchs‹ niemals in den Sinn gekommen ist.«
»Ich dachte, es gäbe entsprechende Sicherheitsvorkehrungen. Nein, lassen Sie mich das korrigieren: Ich wusste, dass es Sicherheitsvorkehrungen gibt. Ich dachte, sie würden funktionieren.«
West blickte bedauernd auf seine Hände, die er locker über seinem Bauch gefaltet hatte.
»Natürlich funktionieren sie.« Müdigkeit sprach aus seiner Stimme, als würde seine Geduld auf eine harte Probe gestellt, indem er das Offensichtliche mehrfach wiederholen musste. »Andernfalls wäre das Projekt inzwischen sicher in die falschen Hände geraten.«
Die Arroganz dieser Bemerkung war einfach absurd, aber das Lachen blieb Susan im Halse stecken.
»Seltsamerweise überrascht mich Ihr Zynismus nicht weiter, Dr. West«, sagte sie stattdessen. »Ich habe bisher ja wenig mit Ihnen zu tun gehabt, aber dieser Wesenszug war stets zu spüren.«
Er sah sie an und hob eine Augenbraue. Es war eine ironische Gebärde, ja, es wirkte, als wolle er sich über Susan lustig machen. »Sie haben ein Problem, Susan – Sie vergessen die grundlegende Regel wissenschaftlicher Forschung: Es wird einem nichts geschenkt. Das ist etwas, was jedem Wissenschaftler klar sein sollte, seit Archimedes sich in sein Bad gelegt und ›Heureka!‹ gerufen hat. Also müssen wir uns fragen, warum Wissenschaftler wie Sie diese ewige Wahrheit einfach ignorieren. Vielleicht weil Sie wie alle Scheinheiligen sehr wohl wissen, was vor sich geht, es aber einfach nicht sehen wollen. Stillschweigend stimmen Sie zu, Sie wollen es nur nicht offen zugeben.«
»Das ist absurd!«
»Jeder wissenschaftliche Fortschritt ist ein zweischneidiges Schwert. Rein und unbefleckt ist er nur in der
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