Epsilon
Gorillas murmelte etwas Obszönes und stieß Kathy beiseite. Charlie sah, wie sie stolperte und hinfiel. In diesem Moment trafen sich ihre Blicke. Und ihr Blick war die letzte Erinnerung an die Außenwelt, bevor sie ihn ins »Loch« warfen. Eine Art Funke war übergesprungen. Charlie wusste nicht, was zwischen ihnen geschehen war, aber er war fortan unfähig, an etwas anderes zu denken, bis er Kathy wieder sah. Nur ein paar Wochen später waren sie zusammen davongelaufen. Und dann hatte diese Beziehung, die ihm noch heute mehr als jede andere m seinem Leben bedeutete, abrupt geendet – bis zu der seltsamen Begegnung am Strand vor ein paar Tagen.
Was Charlie am meisten überraschte, während er an diesem Morgen zum dritten oder vierten Mal durch dieselben Straßen kurvte, war die Tatsache, dass ihm absolut nichts in dieser Gegend vertraut erschien. Natürlich war es möglich, dass das Waisenhaus abgerissen worden war – und ein besseres Ende hätte er sich wirklich nicht dafür vorstellen können. Aber konnte es sein, dass tatsächlich alles andere auch dem Erdboden gleichgemacht und neu wieder aufgebaut worden war? Er war sich sicher, dass er sich im richtigen Teil der Stadt befand, warum also erkannte er nichts wieder?
Er stellte seinen Wagen an einer Parkuhr ab und stieg aus, um sich zu Fuß umzusehen. Wenn er hier keinen Hinweis darauf fand, was geschehen war, musste er sich wohl an die Behörden wenden. Charlie hatte gehofft, das vermeiden zu können; es würde nur unnötige Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Aber er war entschlossen, alles zu tun, um Kathy zu finden.
In diesem Augenblick bemerkte Charlie, dass er verfolgt wurde. Im Verkehr auf den Straßen hatte er sie nicht entdeckt: zwei Männer, unauffällig gekleidet, in einem schmutzigen blauen Sedan. Der Sedan hatte einige Beulen und war um den Kühler ziemlich verrostet, also kein Auto, nach dem man mehrmals schauen würde. Und in der Tat war es nicht der Wagen, der Charlie als Erstes auffiel. Er warf zufällig einen Blick hinein, als er daran vorbeiging, und sah, dass die beiden Männer sich unterhielten. Der Mann hinter dem Steuer trug ein Hemd, das einem seiner eigenen sehr ähnlich sah, vielleicht sogar das gleiche war. Der rote Stoff war mit einem Muster aus Marihuana-Blättern bedruckt. Charlie hatte vor ein paar Monaten ein solches Hemd von einem Trip nach Maui mitgebracht.
Er dachte nicht weiter über den Zwischenfall nach, bis ein weiterer geschah. Charlie hatte eine Straße überquert, stand nun auf dem Bürgersteig und überlegte, welches der ihn umgebenden Gebäude wohl älter als fünfzehn oder zwanzig Jahre sein und somit aus seiner Jugendzeit stammen mochte. Er hoffte, jemanden zu finden, dem er ein paar beiläufige Fragen über das verschwundene Waisenhaus und die Schule stellen konnte.
Und da bemerkte er den Mann im Marihuana-Hemd auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, wie er in das Schaufenster eines Radio- und Fernsehgeschäfts blickte, sich jedoch so hingestellt hatte, dass er Charlie dabei weiterhin aus den Augenwinkeln beobachten konnte. Es war eine Haltung, die Charlie nur allzu gut von seiner Ausbildung und seinen Einsätzen her kannte, und sie führte automatisch zu der Frage: Wo war der andere Mann?
Er entdeckte ihn hinter dem Fenster eines Feinkostladens, eine Zeitung in der Hand und an einem Kaffee nippend. Eine weitere Bestätigung brauchte Charlie nicht.
Er wurde überwacht.
25
Die beiden waren fähige Männer, befand Charlie nach etwa zwanzig Minuten, wenn auch ziemlich weit davon entfernt, Topagenten zu sein. Er ließ sich nicht anmerken, dass er seine Verfolger entdeckt hatte, und schlenderte wahllos durch einige Läden, kaufte ein paar Krawatten, ein paar Socken und ein Magazin. Dabei behielt er die beiden Männer immer im Auge und hatte bald das System erkannt, nach dem sie arbeiteten. Schließlich steuerte er auf eine Spielhalle zu und schlüpfte hinein.
Charlie wusste, dass einer der Männer ihm nach zirka fünf Minuten folgen würde, während der andere zur Rückseite des Hauses ging, um mögliche Hinterausgänge im Auge zu behalten. Das war das Standardverfahren. Charlie ging unverzüglich zur Herrentoilette, schloss sich ein, drückte mit Gewalt ein verrostetes Milchglasfenster auf und kletterte hinaus. Er befand sich nun in einem engen, kaminartigen Schacht. Um hier hinaufzukommen, blieb ihm nichts anderes als der Einsatz reiner Muskelkraft: Er würde sich mit Armen und Beinen gegen die Wände stemmen
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