Epsilon
einem der vier Räume, die Charlie sehen konnte, standen Möbel: nicht mehr als ein paar Stühle und ein Tisch mit einem Computer. An der Tastatur saß ein dicker, glatzköpfiger Mann. Dicht neben ihm stand Control. Er nickte Charlie kurz grüßend zu und forderte ihn auf, sich einen Stuhl neben den dicken Mann zu schieben.
»Wir müssen wissen, wie sie aussah, Charlie«, sagte er. »Jedes Detail, an das sie sich erinnern können, ist wichtig.«
Charlie setzte sich. Auf dem Bildschirm war eines jener Programme zu sehen, mit denen Fahndungsbilder erstellt wurden. Charlie spielte der Form halber mit und schuf ein Bild, das Kathy ähnlich sah, aber doch nicht sie selbst war. Daraufhin stellte Control ihm einige Fragen, von denen er die meisten schon am Telefon beantwortet hatte. Es war eine typische Nachbesprechung, reine Routine, aber Controls Interesse an Kathy signalisierte Charlie, dass sie in etwas verwickelt sein musste, das ihm vermutlich gar nicht gefallen würde.
»Nun gut, Charlie«, sagte Control schließlich und seufzte tief. »Sie können sich zurückziehen. Nehmen Sie sich ein paar Tage frei. Wir bleiben in Kontakt.«
Die Vergangenheit, so hatte Charlie einmal gehört, war ein fremdes Land. In seinem Fall war es ein Land, das er nicht wieder zu besuchen beabsichtigt hatte – bis jetzt. Die Begegnung mit Kathy hatte alles verändert, und ihr geheimnisvolles Verschwinden ließ ihm keine andere Wahl. Man hatte ihm keine eindeutigen Befehle gegeben, und so schien ihm ein kleinern Trip in die Vergangenheit völlig naheliegend und unverdächtig.
Charlie war sich nie sicher gewesen, wie viel Control tatsächlich über ihn wusste. Manchmal fragte er sich, ob er beobachtet wurde, wenn er außer Dienst war. Was nicht hieß, dass er je ganz außer Dienst war: Er musste ständig in Alarmbereitschaft bleiben, für den Fall, dass er gebraucht wurde. Er trug stets einen Piepser und ein Handy mit sich herum. Und diese konnten, das wusste er, auch dazu benutzt werden, ihn aufzuspüren, wenn man das wollte. Bisher hatte ihn dieser Gedanke nie beunruhigt, denn bisher hatte er nichts zu verbergen gehabt.
Jetzt, wo er darüber nachdachte, war Charlie sich nicht sicher, ob er jemals den Namen oder den genauen Standort von Kathys Waisenhaus gekannt hatte. Es war immer nur »das Mädchenhaus am anderen Ende der Stadt« gewesen. Der Bus brachte die Mädchen morgens zur Schule und abends zurück. Die Schule selbst war dem Waisenhaus der Jungs angegliedert, in dem Charlie untergebracht gewesen war. Logischerweise sollte er also hier mit seiner Suche beginnen. Er erinnerte sich, dass das Haus irgendwo weit entfernt am Stadtrand gestanden hatte, und er wusste auch ungefähr, in welchem Viertel, aber einen Straßennamen kannte er nicht. Also entschloss er sich, einfach herumzufahren, bis er es gefunden hatte.
Ihm stand noch deutlich vor Augen, dass es ein großes, dunkles Gebäude gewesen war, das auf mysteriöse Weise stets von Zwielicht umgeben gewesen war, als stünde es ausgerechnet in dem einen Viertel der Stadt, in dem wie durch Zauberhand nie die Sonne schien. Es war ein Gebäude, das einzig zu dem Zweck errichtet worden war, die Menschen zu brechen, die darin wohnten. Wie sonst hätten all die ungelüfteten Schlafsäle mit ihren hohen, vergitterten Fenstern erklärt werden können? Oder die langen gewundenen Korridore, die endlosen Treppenaufgänge und vor allem jene schmale Steintreppe, die tief hinunter zu der Stahltür führte, hinter der sich »das Loch« befand?
Während Charlie durch die Stadt fuhr, dachte er die ganze Zeit über an Kathy. Vor allem an ihre erste Begegnung. Es hatte eine Schlägerei gegeben – nichts Neues, außer dass es diesmal nicht ein oder zwei Burschen waren, die ihm ans Leder wollten, sondern eine ganze Gruppe. Er erinnerte sich nicht mehr an die Einzelheiten, nur daran, dass er wohl zum Berserker geworden war. Alle waren sie vor ihm geflohen, bis auf zwei, die dazu nicht mehr in der Lage waren. Der eine versuchte, auf allen vieren davonzukriechen, der andere lag wimmernd am Boden, und Blut lief ihm aus dem Mund. Dann tauchten plötzlich wie aus dem Nichts die Gorillas auf. Riesige Hände packten Charlie am Schopf und an der Kehle, an Armen und Beinen. Er wurde hochgehoben und waagerecht in der Luft gehalten wie ein Rammbock. Da trat Kathy vor und stellte sich ihnen in den Weg.
»Es war nicht seine Schuld«, sagte sie. »Es war eine ganze Gang. Und sie haben angefangen.«
Einer der
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