ePub: Ashes, Ashes
Er beschrieb eine umfassende Geste mit dem ausgestreckten Arm.
Lucy wurde schon wieder schwindelig, während sie nur seiner Hand hinterhersah. So unauffällig wie möglich klammerte sie sich an ihrem Ast fest. Sie blickte den Jungen ungläubig an. In den letzten zwölf Monaten hatte es keinen einzigen Augenblick gegeben, an dem sie untätig gewesen war – außer, wenn sie gerade schlief. Wenn sie nicht auf Nahrungssuche war, stopfte sie Ritzen, holte Wasser oder hängte Köder an ihre Angelhaken. Und abends flocht sie struppige Gräser zu rauen Strängen, um Seile und Matten daraus zu machen. Sie hatte Häute bearbeitet, Fleisch geräuchert, Eicheln gemahlen oder Risse und Löcher in ihrer Kleidung und ihren Stiefeln geflickt. Sich die Zeit einfach zu vertreiben – das war weiß Gott nicht drin!
Lucy starrte Aidan an und dachte, er müsse verrückt sein. Das wirklich Verrückte war nur, dass er sie mit genau demselben Ausdruck im Blick ebenso anstarrte.
»Wie bitte?«, brach es plötzlich aus ihr heraus. Sie schlug so heftig auf den Ast, dass ihre Hand schmerzte. »Du setzt dein Leben aufs Spiel, nur um die dämliche Aussicht zu genießen?« Sie zeigte auf die Hunde. »Das hier ist kein normaler Park mehr!«
Aidan erstarrte einen kurzen Moment, dann lehnte er sich auf seinem Ast zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Lucy hatte keinen Schimmer, wie er das Gleichgewicht hielt, aber er wirkte so unangestrengt, als läge er auf einem Sofa.
»Du denkst wohl, du weißt Bescheid, wildes Mädchen«, sagte er.
»Was willst du damit sagen?«, entgegnete Lucy ärgerlich.
»Wie lange lebst du schon hier draußen?«
»Lang genug, um zu wissen, wie gefährlich die S’ans, die Sweeper und die Plünderer sind!«
»Man muss eben aufpassen«, antwortete er nach kurzem Nachdenken. »Und die Plünderer sind gar nicht so schlimm.«
»Du spinnst.« Und dumm bist du auch , fügte Lucy im Stillen hinzu. »Die Plünderer klauen dir den Arsch aus der Hose, die Sweeper sperren dich ein und von den S’ans kriegst du die Seuche. Oder, wenn du Glück hast, bringen sie dich einfach um«, setzte sie hinterher und bohrte ihr Messer in den Baumstamm.
Er sah sie schon wieder so spöttisch an, und es juckte sie in der Hand, ihn zu ohrfeigen. Ein leises Lachen drang aus seinem Mund.
Vorsichtig wandte sie ihren Oberkörper ab, damit sie ihnnicht mehr im Blickfeld hatte. Kaum eine Meile entfernt, hinter dem Wäldchen und dem Buschland, lag ihr Camp. Aber es hätte ebenso gut am anderen Ende der Welt liegen können. Aidan pfiff leise eine schiefe Melodie vor sich hin, und Lucy gab sich alle Mühe, ihn zu ignorieren. Die Feuchtigkeit kroch ihr unter die Haut, ließ sie bis ins Mark frieren. Außerdem stank sie nach feuchtem Schlamm. Die Finger am Messergriff wurden ihr steif, trotzdem behielt sie das Messer in der Hand.
Allmählich ließ der Nieselregen nach. Nebel wallte vom Meer heran und bedeckte den Boden. Rundum war das feine Platschen der Tropfen zu hören, die von den Blättern zu Boden fielen. Lucys Hand wanderte unauffällig an ihren Kopf. Bei Feuchtigkeit kräuselten sich ihre Haare. Bestimmt sah sie völlig zerzaust aus.
Sie zog die Augenbrauen zusammen und veränderte ein wenig ihre Sitzposition auf dem Ast. Ihr Hintern war drauf und dran einzuschlafen und sie hätte sich gern ein bisschen bewegt, aber ein Entkommen war unmöglich. Unter dem Baum streiften knurrend und hechelnd die Hunde umher. Der eine, ein Terrier und die Sorte Hund, die Lucy einmal niedlich gefunden hatte, saß vor dem Baumstamm und jaulte herzzerreißend, so als ob er kurz vor dem Verhungern wäre. Zwischen zwei anderen Hunden, einem schwarzen Pitbull, der so kurzes, glattes Fell hatte, dass es aussah, wie mit Spraylack aufgesprüht, und einem kräftigen Rottweiler brach eine Balgerei aus. Kleinere Hunde schossen hinzu und bissen beide in die Flanken. Das Gekläffe war ohrenbetäubend. Es warein kurzer, rücksichtsloser Kampf, der mit eingerissenen Ohren und blutenden Schnauzen endete. Fellbüschel schwebten durch die Luft. Mit heftig bebenden Flanken ließen sich beide Hunde zu Boden fallen und leckten ihre Wunden. Der Rest der Meute legte sich ebenfalls auf die Erde, wie von der Aufregung erschöpft. Einige von ihnen schienen einzuschlafen. Lucy zog ein Stück Rinde vom Baum und warf sie auf einen der ausgestreckten Leiber.
Augenblicklich war das Tier wieder auf den Beinen und knurrte gefährlich. Von überall her kamen nun unter wütendem
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