ePub: Ashes, Ashes
»Lucy, durch das Buschland musst du uns führen. Es wird dunkel sein und du kennst dich dort besser aus als jeder andere.«
Lucy dachte nach. Der Große Regen hatte kaum begonnen. Als sie ihren Unterschlupf verlassen hatte, war der Wasserstand zwar hoch gewesen, aber noch nicht höher als die Fliegenpilzkappe der Alice-Statue. Bisher hatte es noch nicht allzu oft geregnet, und dass der Tsunami die Gegend überflutet hatte, lag über eine Woche zurück. »Allzu schlimm dürfte der Boden nicht sein.« Sie zögerte. »Ich kenne mich zwar ganz gut aus, aber die Brücke zur Insel ist einen knappen Kilometer lang und liegt vollkommen ungeschützt. Wenn sie Wachtposten haben, werden sie uns darauf sofort entdecken.«
Del sah auf. »Die Brücke ist unbeleuchtet. Wenn wir vorsichtig sind, müsste es gehen. Erst im Inneren des Turms und im Krankenhaus gibt es Licht. Durch einen Generator. Ich habe ihn gehört.« Sie schluckte. Eine Mischung unterschiedlichster Gefühle zuckte über ihr Gesicht. Eines daraus abzulesen, fiel Lucy nicht schwer: Angst . Sie stand allen dreien ins Gesicht geschrieben.
»Also gut«, sagte Aidan.
Mit einem Mal war Lucy nervös. »Ganz ungefährlich wird es nicht.« Sie war sich nicht sicher, was schlimmer war: blind in die Sache hineinzulaufen oder, wie Del, zu wissen, was sie erwartete.
»Wir müssen es tun«, sagte Del. »Sonst wird es nie ein Ende haben.« Sie schob sich die Kapuze des Sweatshirts mit einer heftigen Bewegung vom Kopf. Ihre Augen glommen wie im Fieber und ihr Gesicht sah blass und krank aus.
»Lasst uns gehen und die Kinder nach Hause holen. Wie auch immer«, sagte sie leise.
Allmählich ging die Sonne unter und die Kinder verkrochen sich in ihre Betten. An diesem Abend wurden die Laternen nicht angezündet. Der Schein des mächtigen Feuers und der Sterne reichte aus, um den Platz zu beleuchten. Jeder Überrest eines kaputten Möbelstücks, jeder Holzscheit, der schon für die kommenden kalten Monate gesammelt worden war, wurde in die Flammen geworfen. Höher und höher loderten sie, genährt durch das Benzin, das Sammy rundum verspritzt hatte, als orangefarbene und rote Zungen um Leos toten Körper, der auf der Spitze des mächtigen Scheiterhaufens lag. Sammy hatte seine Maske wieder abgenommen, genau wie Beth und der schweigsame Ralph. In den kurzen Momenten, in denen der Feuerschein auf sie fiel, konnte man erkennen, dass ihre Gesichter, abgesehen von der dunkel unterlaufenen und runzeligen Haut, vollkommen ebenmäßig waren.
Lucy sah zu, wie die Flammen aus dem Dunkel emporstiegen. Es war ihr unbegreiflich, dass Leo tot war. Sie dachte an seine Kraft und an seine Sanftheit. Dels Gesicht konnte sie nicht sehen, aber Lucy spürte ihre überwältigende Trauer und ihren Zorn. Das Mädchen hielt sich abseits von den anderen, den Blick starr geradeaus gerichtet und vollkommen reglos, abgesehen von ihren Fingern, die in einem fort an dem blutigen Schorf an ihren Handgelenken herumkratzten. Als Lucy ihr sagte, wie leid es ihr tue, knurrte sie nur, und als Aidan sie in den Arm nehmen wollte, wandte sie ihr Gesicht ab.
»Wir sollten alle etwas essen«, sagte Aidan nach einer Weile. Er reichte einen Laib Brot herum. Lucy riss ein Stück ab und kaute es pflichtbewusst. Ihr Mund war trocken. Sie konnte erst schlucken, als sie sich von Aidan die Wasserflasche reichen ließ und den Klumpen, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte, mit einem ordentlichen Schluck hinunterspülte.Del aß nur einen kleinen Happen und schob den Rest in die Tasche von Lucys Sweatshirt. Sie zitterte immer noch.
»Lasst uns aufbrechen«, sagte sie. »Ich halte es hier nicht mehr aus.«
»Ist dir warm genug?«, wollte Aidan von ihr wissen.
»Solange wir uns bewegen. Mach dir um mich keine Gedanken.« Sie sprang auf.
Lucy zog ihre Jacke zu und stopfte sich das Haar in den Kragen. Wegen ihrer abgeschnittenen Hose fror sie an den Beinen, aber ihre Jeans wollte sie nicht anziehen – für den Fall, dass sie durch Wasser waten mussten. Sie sah kurz nach, ob ihr Rucksack geschlossen war, dann schwang sie ihn auf ihren Rücken. Auch Aidan und Del hatten ihre Rucksäcke geholt. Beide führten einen kurzen Bogen und ihre Schleudern mit sich und ihre Taschen waren voll spitzer Steine. Lucy hatte ihr Messer und überzeugte sich, dass es an ihrer Hüfte saß. Darüber hinaus hielt sie einen langen Stock in der rechten Hand, den sie am Tag zuvor aus der Glut gezogen hatte. Mit seiner Länge von über einem Meter und
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