ePub: Ashes, Ashes
Trampelpfad, den das Wild nahm, wenn es zum Trinken ins Tal lief. Davor aber lagen mehrere Kilometer schwieriges, von Schluchten durchzogenes Gelände. Grauer Granit glitzerte im Licht der Sterne zwischen steilen dunklen Gräben, wo die Erde eingesunken oder weggebrochen war. Lucy atmete tief ein. Wenn sie erst einmal mitten drin waren, wäre es weniger schlimm. Das Problem mit dem Schwindel, der sie im Wipfel eines Baums oder auf einer schwankenden Brücke überkam, hatte sie beim Klettern nicht, wenn sie sich mit ihren Händen einen steilen Grat hinaufzog oder sich bei einem Abstieg irgendwo abstützen konnte.
»Gehen wir endlich?«, fragte Del ungeduldig. Sie spielte mit ihrer Schleuder herum. Die Tasche an Lucys Sweatshirt, dasDel immer noch trug, beulte sich durch das Gewicht der Kiesel aus. Im schwachen Licht wirkte Del noch blasser und auf ihrer Stirn lag ein feiner Schweißfilm.
»Ich suche nur den schnellsten Weg nach unten«, antwortete Lucy leichthin. Sie fragte sich, warum Del mit einem Mal so krank und nervös aussah, wo sie wenige Augenblicke zuvor noch hatte frotzeln können.
Aidan sah den Abhang hinab und stieß einen leisen Pfiff aus. »Hier ist es am schnellsten. Zweifellos.«
Del warf ihr Haar zurück und sah über ihre rechte Schulter nach hinten, in die entgegengesetzte Richtung dessen, was von der Stadt übrig geblieben war. Ihr Blick wanderte weg von den Geröllhalden und Roosevelt Island. Nach Norden. Lucy überlegte, ob der Himmel dort höher war. Er sah jedenfalls höher aus und die Sterne waren dichter gesät und bildeten über den Berggipfeln einen breiten hellen Streifen.
»Denkt ihr zwischendurch eigentlich nicht auch: Lasst es?«, fragte Del. »Es bedeutet doch viel zu viel ... Verantwortung.« Ihr Mund brachte das Wort nur schwer hervor. Sie sah zu Lucy, dann zu Aidan. Ihre Augen glänzten. »Ich meine, wir sind doch bloß Jugendliche, oder? Sollen wir uns wirklich in solche Gefahr begeben? Anstatt uns einfach zu amüsieren? Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll – so sollte es doch eigentlich sein!« Ihre Stimme war immer leiser geworden und heller, bis sie schließlich wie ein kleines Mädchen klang. Wehmütig und traurig.
Gleichzeitig blickte Del mit einer derart wütenden Miene über die Wildnis, dass es Lucy den Atem verschlug. Dannschrie sie auf – eigentlich war es mehr ein Heulen – und warf dabei den Kopf in den Nacken. Eine Handvoll Steine lösten sich unterhalb ihrer Füße und kullerten in die Tiefe.
Aidan streckte die Hand aus. »Du stehst zu nah am Rand.«
Del sah ihn finster an. »Ist das nicht vielleicht meine Sache?« Sie trat sie mit ihrer stumpfen Stiefelkappe gegen den Boden und löste dadurch eine weitere Gerölllawine aus. »Gehen wir! Hier entlang, oder?«, fragte sie mit einem kurzen Blick nach hinten zu Lucy.
Im Verlauf der nächsten Stunden konnte keiner von ihnen Energie für ein Gespräch erübrigen. Lucy lief voraus, Del hinterher. Danach kam Aidan. Durch ihren Speer hatte Lucy eine zusätzliche Möglichkeit, die Balance zu halten und an den steileren Stellen den Grund zu prüfen. Nahezu jeder Schritt löste einen kleinen Steinschlag aus. Manchmal lief Del von hinten auf Lucy auf, weil sie nicht abbremsen konnte. Dann scheuchte Lucy sie ärgerlich zurück auf Abstand. Langsam arbeiteten sie sich an Aufwerfungen alter Autostraßen und an Asphaltbrocken vorbei. Außer dem Knirschen von Stein, dem Prasseln von Erdklumpen und ihrem Atem war alles still. Del war eigentümlich schweigsam, abgesehen von einem gelegentlichen Aufschrei, wenn sie stolperte oder rutschte. Lucy fiel auf, dass sie sich im unebenen Gelände bei Weitem nicht so geschickt anstellte wie auf der Brücke. Wenn sie auftrat, rutschte sie weg oder Erdklumpen brachen beiseite und flogen knapp an Lucy vorbei. Außerdem hatte sie kein bisschen Gefühl für ihr Gleichgewicht. Sie war stocksteif und wusste offenbar nicht, was sie mit ihren Armen anfangen sollte.
Auf einem Felsvorsprung blieb Lucy stehen und tat, als wollte sie Atem holen. Aidan war ein Stück weiter hinten stehen geblieben, um seine Schnürsenkel zuzubinden. Ohne Del anzusehen, sagte Lucy leise zu ihr: »Du darfst nicht auf deine Füße sehen, sondern immer nach vorn, damit dein Gehirn das Gefälle und die Veränderungen im Boden registrieren kann. Nimm deine Hände, um dich festzuhalten und für das Gleichgewicht. Und geh ein bisschen in die Knie!«
Keine Antwort.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Del sich auf die Lippe
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