ePub: Der letzte Zauberlehrling
Straßenecken hatten zahlreiche fliegende Zeitschriftenhändler ihre Waren auf ausklappbaren Gestellen und auf dem Trottoir ausgebreitet. Es gab Zeitungen und Magazine in vielen Sprachen, und ich fragte mich, wer das wohl alles lesen mochte. An diesem Morgen wurden die Schlagzeilen der einheimischen Blätter mal wieder von den Drohungen des Erzkanzlers gegenüber den Nachbarländern bestimmt. Ich interessierte mich zwar nicht für Politik, aber sogar mir entging nicht, dass er seit seiner Ernennung nichts anderes zu tun zu haben schien, als unseren Nachbarn zu drohen, Forderungen an sie zu richten und die Bevölkerung auf einen möglichen Krieg vorzubereiten. Fast täglich fand in der Stadt irgendwo eine Militärparade statt, um die Wehrfähigkeit unseres Landes unter Beweis zu stellen.
Ich wartete gerade an einer Straßenkreuzung, in deren Mitte ein Polizist den Verkehr regelte, als mich jemand von der Seite ansprach. »Sieh an, unser Landei ist doch in Paris geblieben.«
Ich drehte mich um und blickte in Papillons grinsendes Gesicht. Er war genauso angezogen wie damals am Bahnhof, aber nichts von seiner Kleidung sah schmutzig oder abgetragen aus. Ich fragte mich, ob er wohl mehrere identische Kleidungsstücke im Schrank hatte.
»Hey!«, rief ich und schlug ihm auf die Schulter. »Schön, dich wiederzusehen.«
»Gleichfalls. Wie geht’s dir? Was treibst du so?«
Der Polizist gab die Fahrbahn frei und die Passanten drängten an uns vorbei auf die Straße. Ich zog Papillon zur Seite. »Ich bin dir was schuldig. Ohne dich wäre ich wahrscheinlich sofort nach meiner Ankunft wieder abgereist.«
»Und jetzt bewegst du dich in der Großstadt so, als hättest du schon immer hier gelebt. Hast du etwas Zeit? Dann lass uns was trinken!«
»Zeit hab ich, nur leider kein Geld.« Kost und Logis war alles, was Prometheus mir bieten konnte, und ich wusste nicht einmal, wo er das Geld für die kärglichen Lebensmittel und seinen Alkohol herbekam.
»Kein Problem, ich lade dich ein.« Papillon deutete auf ein Café auf der anderen Straßenseite.
Wir überquerten die Fahrbahn und nahmen an einem der Tische Platz, die auf dem Gehsteig aufgebaut waren. Papillon winkte einem Kellner und bestellte ein Getränk für jeden von uns, dessen Namen ich nicht mitbekam.
Die Sonne schien, und ein milder Wind sorgte dafür, dass die Auspuffgase der Automobile schnell wieder davongeweht wurden. Der Kellner stellte zwei Gläser vor uns hin, die mit einer grünen Flüssigkeit gefüllt waren. Papillon hob sein Glas.
»Auf deine Ankunft in Paris«, sagte er.
Ich schnupperte an meinem Getränk. Es roch nach Pfefferminz. Papillon lachte. »Das ist Mentee, das Pariser Nationalgetränk sozusagen. Es ist ein Sprudel, der aus Pfefferminzblättern zubereitet wird.«
Wir stießen an und tranken. Es schmeckte ausgezeichnet.
»Und, wie ist es dir ergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?«, fragte Papillon.
Ich berichtete von meinen Erlebnissen in den vergangenen Wochen. »Dann bist du also der letzte Zauberlehrling«, sagte Papillon. »Deine Kollegen, die mit dir angekommen sind, haben die Stadt am nächsten Tag nämlich wieder verlassen.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es wird noch andere geben, irgendwo auf dem Land.«
»Ein paar Dorfzauberer, klar. Aber die zählen nicht. Große Zauberer werden in der Stadt gemacht – oder besser: wurden in der Stadt gemacht, denn damit ist es ja nun vorbei. Anwesende natürlich ausgenommen.«
Wir schwiegen. Ich genoss die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht und hatte überhaupt keine Lust, über solch komplizierte Themen nachzudenken. Ob ich nun der letzte Zauberlehrling war oder nicht, war mir völlig egal. Hauptsache, ich hatte einen Meister gefunden, selbst wenn er ein alter Trunkenbold wie Prometheus war.
Papillon griff nach einer Tageszeitung, die ein Gast auf dem Nebentisch liegen gelassen hatte. »Was hältst du davon?«, fragte er und tippte auf die Schlagzeile auf der ersten Seite.
Es ging mal wieder um den Erzkanzler. »Politik«, sagte ich. »Darum kümmere ich mich nicht.«
»Das solltest du aber«, erwiderte er. »Wenn es tatsächlich zu einem Krieg kommt, dann kann sich dem keiner von uns entziehen.«
»Ist das wirklich so ernst?«, fragte ich. »Welcher vernünftige Mensch sollte schon einen Krieg wollen?«
»Ich würde unseren Erzkanzler nicht unbedingt als vernünftigen Menschen bezeichnen. Er träumt von einem europäischen Großreich unter seiner Herrschaft. Seit Jahren
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