ePub: Der letzte Zauberlehrling
aufbaute, und hätte ihn fast über den Haufen gelaufen, wenn er sich nicht lautstark bemerkbar gemacht hätte.
»Tue Buße!«, rief er. »Der Untergang ist nahe!«
Es war ein älterer, schlicht gekleideter Mann mit einer Ballonmütze auf dem Kopf, der ein Plakat vor dem Körper trug, das an einer Kordel um seinen Hals hing. DAS ENDE IST NAH! war darauf in blutroter Farbe und krummen Lettern gemalt. Ich hatte ihn schon mehrfach in den letzten Tagen gesehen und war ihm, wie anderen Endzeitpropheten auch, stets aus dem Weg gegangen. Paris war voll von diesen Gestalten, die jeder eine andere Art des Weltuntergangs ankündigten.
»Entschuldigung«, murmelte ich und wollte mich an ihm vorbeidrücken, aber er hielt mich am Arm fest. »Die Sonne explodiert!«, brüllte er mir ins Ohr. »In wenigen Wochen wird alles vorbei sein! Kehre um und bereite dich vor!«
Ich warf einen Blick in seine flackernden Augen. »Keine Angst«, beruhigte ich ihn. »Der Sonne passiert nichts.« Zugleich versuchte ich, mich aus seinem Griff zu winden.
»Die Wissenschaft bestätigt es«, entgegnete er und hielt mir mit der anderen Hand ein Faltblatt vor die Nase. Astronomen e rwarten stärksten Sonnensturm des Jahrhunderts lautete die Überschrift. Der Mann drückte mir das Blatt in die Hand. »Nimm und lies«, sagte er. »Auf der Rückseite findest du die Anschrift, wo wir uns jeden Abend versammeln, um uns vorzubereiten.«
»Vielen Dank«, sagte ich höflich und nahm die Flugschrift entgegen. Der Weltuntergang war derzeit eine meiner geringsten Sorgen. Nur widerstrebend lockerte er seinen Griff um meinen Arm. »Du weißt etwas, das kann ich spüren.«
»Ich weiß gar nichts«, erwiderte ich voller Überzeugung, denn es entsprach der Wahrheit.
»Doch, du weißt etwas!«, wiederholte er und krallte sich erneut in meinem Ärmel fest. Seine Stimme klang jetzt fast hysterisch. »Du musst es mir sagen! Was weißt du? Was wird geschehen? Das Ende! Das Ende!«
Er schrie jetzt so laut, dass die Passanten in der Nähe aufmerksam wurden. Einige lachten, froh darüber, nicht selbst in die Hände des Untergangspropheten geraten zu sein. Andere starrten mich fragend an. Das war eine Beachtung, die ich nicht gebrauchen konnte. Mit einem Ruck machte ich mich los und eilte mit großen Schritten davon, wobei ich den Handzettel ungelesen in meine Tasche stopfte. Der Mann schrie hinter mir her, und erst, als ich die nächste Ecke umrundet hatte, verhallten seine Rufe. Ich schüttelte den Kopf und setzte meinen Weg fort, nicht ahnend, dass mich schon die nächste Unglücksbotschaft erwartete.
Als ich das Haus von Prometheus betrat, fand ich den alten Zauberer am Tisch sitzend vor. Er hatte den Kopf auf die Hände gestützt und starrte vor sich ins Leere. Es war nicht dertypische, vom Alkohol benebelte Blick, den ich so gut kannte. Ich glaubte zu spüren, wie sich in dem Alten etwas aufbaute, was über kurz oder lang zu einer Explosion führen würde.
Als ich herantrat, sah ich einen geöffneten Brief vor ihm auf dem Tisch liegen. Er schob den Umschlag in meine Richtung. Ich zog die beiden Blätter heraus und faltete sie auf. Das Schreiben trug den Briefkopf des Innenministeriums und war von einem Ministerialrat Brossard unterzeichnet. Der Text war kurz und amtlich:
Sehr geehrter Herr,
aufgrund der Verfügung Nr. LXXII, Absatz 2, geändert durch die Verfügung Nr. LXXII-7, Absatz 5, der Verordnung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Untersagung von kleingewerblichen Aktivitäten der Unterhaltung, Belustigung und Erheiterung in der Fassung vom siebten Mai d. J., teile ich Ihnen hiermit mit, dass Sie mit sofortiger Wirkung jegliche Aktivitäten einzustellen haben, die der Vorbereitung, der Anpreisung, der Durchführung oder der Propagierung der Zauberei dienen oder dazu geeignet sind, diese und andere Tatbestände, die in Zusammenhang mit der Vorbereitung, der Ausführung oder der gewerblichen Nutzung von Zaubersprüchen stehen, der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen. Die Zuwiderhandlung gegen diese Verfügung wird gemäß § 8, Absatz 2 des Gesetzes zur Unterbindung volksgefährdender Bestrebungen in der Fassung vom 18. Januar dieses Jahres mit Gefängnis nicht unter zwei Jahren bestraft.
Ich fordere Sie auf, die beiliegende Unterlassungserklärung zu unterzeichnen und sie mir binnen einer Woche zurückzusen d en. Zugleich mache ich Sie darauf aufmerksam, dass bei nicht rechtzeitigem Vorliegen dieser Erklärung
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