ePub: Drachenhaut (German Edition)
die Augen auf, schlug eine Hand vor den Mund, rief: »Oh, du ungezogener, frecher ...«, und war im gleichen Atemzug verschwunden.
Lilya wechselte einen Blick mit dem Panther. Sie seufzte. »Sie hat recht«, sagte sie.
»Dass ich ungezogen bin?«
»Dass meine Zeichen dich retten würden.« Lilya schlug in einer unbewussten Nachahmung der Feenfürstin die Hand vor den Mund. »Amayyas«, sagte sie erstickt, »ich bin so dumm!« Sie wandte sich an Udad, der schweigend und blass neben ihr stand. »Halte mir den Rücken frei. Bewach die Tür, lass niemanden ein.«
»Mit meinem Leben«, sagte Udad, dem man ansehen konnte, dass er sich freute, endlich von Nutzen sein zu können.
Lilya kniete vor Amayyas nieder. »Ich habe eine Idee«, sagte sie zu ihm. »Wenn du mich gefressen hättest, wäre dein Fluch gebrochen worden. Also muss ich jetzt etwas tun, von dem ich nicht weiß, ob es funktionieren wird. Du kannst mich ja immer noch fressen, wenn es schiefgeht.« Sie verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln.
»Bringt es dich in Gefahr?«
Lilya hob die Schultern. Amayyas schüttelte langsam den Kopf. »Dann will ich nicht, dass du es tust.«
»Wir haben keine Wahl, wenn wir das Serail lebend verlassen wollen«, gab Lilya heftig zurück. »Und jetzt sei ruhig und lass mich machen.«
Zu ihrem Erstaunen schwieg Amayyas gehorsam. Sie spürte seine Blicke und die Udads, die beide mit ähnlicher Hoffnungauf ihr ruhten. Udad fürchtete um sie, aber er würde ihr niemals hineinreden, wenn sie zu etwas entschlossen war. Er war zuverlässig wie ein Stein und freundlich wie Regen im Frühjahr.
Lilya nahm dieses Gefühl, das ihr Herz wärmte, und ließ es anwachsen, bis es sie ganz und gar erfüllte. Es war eine starke Kraft, die sie ebenso gut jetzt nutzen konnte.
Dann schloss sie die Augen und begann, vom Kopf bis zu den Füßen, vom Rücken bis zur Stirn, von den Zehen bis zu den Fingerspitzen, mit dem Geist ihre Zeichen zu berühren. Alle Zeichen. Es mussten Hunderte sein, die ihre Haut bedeckten: große und komplizierte Zeichen, kleine Schnörkel, manche nur ein paar Punkte, die wie Sterne nebeneinandersaßen, dann wieder ganze Bilder.
Die Zeit verging. Sie bemerkte, dass sie müde wurde. Zeichen um Zeichen entstand vor ihrem Auge und machte dem nächsten Platz.
Sie betrachtete jedes von ihnen, rief sich seine Bedeutung, seinen Platz, seine Farben und seine Umkehrungen in den Sinn. Hielt es einen Augenblick lang mit dem Geist umfangen und spürte den Kraftlinien nach, die das Zeichen zum Vibrieren brachten. Ließ es verblassen und das nächste Zeichen entstehen.
Dann, nach einer unmessbar langen Zeit, stand das letzte der Zeichen vor ihren Augen. Es war ein strenges, einfaches Symbol, ein schlichter Kreis, der in klarem Weiß leuchtete. Das Zeichen hatte keine Bedeutung oder sie erinnerte sich nicht mehr daran. Lilya starrte es an und zermarterte ihr Gedächtnis. Wofür stand der Kreis? Was bewirkte er?
All. Alles.
Lilya stieß den angehaltenen Atem aus. Die Stimme, die dasgesagt hatte, gehörte dem Drachen. Er hatte ihr nie erklärt, was das Zeichen vermochte, aber sie wusste es jetzt.
Mit einer Kraft, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte, rief sie all ihre Zeichen auf einmal auf. Eine Flut von Bildern, ein Orkan an Farben und Tönen, Gerüchen und Empfindungen drohte sie von den Füßen zu reißen. Sie klammerte sich mit tauben Fingern an einen winzigen Rest ihres Selbst, nannte sich selbst laut beim Namen, damit sie ihn in dem Wirbel nicht vergaß: »Lilya!«, und rief als Letztes den Kreis auf, damit er alle Zeichen in sich aufnahm. Nun stand nur noch dieses Symbol zwischen ihr und dem Prinzen. Es flammte so grell, dass sie vor Schmerz aufschrie. Sie konnte die Wucht und das Gewicht der unzähligen Symbole und der damit verbundenen Zauber körperlich spüren. Ihre Knie begannen zu zittern, ihre Schultern sanken herab, die Zauberzeichen drückten sie tonnenschwer zu Boden.
Mit einem lauten Aufschrei stemmte sie sich mit ihrem ganzen Körper gegen den Druck des flammenden Kreises und schob ihn auf den Prinzen zu. Sie sah, wie die Augen des Panthers hell aufleuchteten, als sie das Licht des Zaubers reflektierten. Seine Pupillen zogen sich zu kaum noch sichtbaren Schlitzen zusammen. Er duckte sich, legte die Ohren an, fauchte laut.
Der Zauber traf ihn und schmetterte ihn zu Boden.
Lilya taumelte und fiel vornüber auf ihre Hände. Sie keuchte, schnappte nach Luft, vor ihren Augen tanzten Sterne und
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