ePub: Drachenhaut (German Edition)
»Nein«, sagte er. »Sieh genauhin, aber blende dich nicht vorher.« Er trat beiseite, seine Hand ruhte auf ihrer Schulter. »Sieh hin«, wiederholte er.
Lilya kniff die Lippen zusammen. Sie fixierte den Jüngling, der vor ihnen auf dem Boden kniete. Seine Umrisse waren undeutlich, als läge ein Schleier vor ihrem Blick. Ein großer, dunkler Schatten lagerte über seiner Gestalt. Massiv. Mächtig. Sie blinzelte verwirrt. Gelbe Augen und ein peitschender Schwanz. Reißzähne. Ein muskulöser, schwarzer Leib. Über seine Flanke zog sich eine lange, blutige Schramme. Sie glaubte, ein drohendes Grollen zu vernehmen.
Einen winzigen Moment lang fühlte sie eine starke, wilde Verbundenheit mit dem Panther, der vor ihr kauerte, eine Verwandtschaft in Seele und Körper. Sie streckte sich unwillkürlich, erwartete, Klauen an den Händen und einen peitschenden Schwanz zu spüren, Tasthaare, die im Luftzug bebten, Augen, die jede winzige Bewegung registrierten, starke Muskeln, die auf einen Befehl warteten, um sich zusammenzuziehen und sie mit einem großen Satz nach vorne zu schleudern.
Dann blinzelte sie, fand sich selbst in ihrem zarten, seltsam schwachen Körper, und wieder kauerte vor ihr der junge Mann. Seine Augen fixierten sie mit einem Ausdruck, den sie nicht deuten konnte.
»Kein Tier«, sagte sie laut. »Das ist nur eine Illusion, Zauberwerk. Ich erkenne einen Zauber, wenn ich ihn sehe.«
Der Schlangengott lachte. »Du bist ganz und gar die Tochter deiner Eltern«, sagte er. »Gut, mein Kind. Dann folge weiter deinem Weg. Und wenn du mich brauchst, rufe nach mir.« Er klopfte ihr sacht mit zwei Fingern gegen die Augenbraue und verschwand.
Lilya hob die Hand und fasste an die Stelle, die er berührt hatte, denn sie brannte und pochte wie eine Verletzung. Sie hörte, wie die Männer sich hinter ihr regten.
»Lilya Banu«, rief der dicke Teto flehend. »Komm her, bitte. Der Herr lässt mich töten, wenn dir etwas zustößt.«
Sie ließ den Blick nicht von dem Jüngling. »Wer bist du?«, fragte sie leise.
»Amayyas«, erwiderte er heiser. Das Sprechen schien ihm Mühe zu bereiten. Er atmete keuchend und fauchte wie eine Katze.
»Lauf, Amayyas«, sagte sie noch leiser. »Ich halte die Männer auf.«
Er regte sich nicht. Sein Blick bohrte sich in ihren. »Der böse Feind hat freundlich mit dir gesprochen«, sagte er. »Dann bist auch du meine Feindin. Lilya.« Er hob den Kopf und atmete grollend aus. Dann stand er mühsam auf und schob sich von ihr fort.
Lilya hörte, wie die Männer hinter ihr in Bewegung gerieten. »Bleibt stehen«, rief sie und gab sich Mühe, schrill und ängstlich zu klingen und sich dabei so groß wie möglich zu machen, um ihnen den Blick zu versperren. »Bleibt stehen, ich flehe euch an. Er wird mich töten, wenn ihr näher kommt!«
Amayyas verschwand lautlos und langsam in der Düsternis. Lilya hob die Hände, breitete die Arme aus, imitierte ein angstvolles Schluchzen und taumelte rückwärts. Sie stieß gegen den ersten der Männer und ließ sich fallen. Der Mann hatte nicht damit gerechnet und geriet bei dem Versuch, sie aufzufangen, ins Wanken, wodurch er den anderen Weg und Sicht versperrte. Lilya blockierte so lange weiter jammernd und schluchzend denWeg, bis sie erkennen konnte, dass Amayyas verschwunden war. Dann stellte sie ihr Gejammer ein, ordnete ihren Schleier und nickte dem dicken Teto befehlend zu. »Bring mich endlich nach Hause.«
Die Männer standen da und starrten unschlüssig in die undurchdringliche Dunkelheit. Der Bewaffnete schoss blind einen Armbrustbolzen hinter dem Panther her, zuckte dann mit den Schultern und ließ die Waffe sinken. »Er ist fort«, sagte er und kratzte sich am Kopf.
»Soll sich doch der Shâya darum kümmern«, sagte ein anderer. »Wofür riskieren wir hier unsere Haut? Der König hat Soldaten, die sind für so was ausgebildet. Kommt, das Mädchen ist ja in Sicherheit.«
Lilya sah erleichtert, dass die Männer den Rückweg antraten. Der verwundete junge Mann hatte ihr leidgetan. Er hatte so gequält ausgesehen. Wahrscheinlich war er verhext worden. Wie schrecklich das sein musste, wenn man von allen gejagt wurde!
Während die Sänfte langsam nach Hause schaukelte und Ajja jammernd und wehklagend, händeringend und Götter und Geister um Beistand anrufend neben ihr herging, dachte Lilya über all das nach, was zuvor geschehen war. Dieser seltsame Junge, Amayyas, der auch ein Panther war. Er hätte sie leicht töten können.
Ob das
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