ePub: Drachenhaut (German Edition)
gelernt zu haben.
Amayyas duckte sich hinter ein Gebüsch, dessen Blüten einen betäubend süßen Duft ausströmten. Ihm wurde schwindelig davon. Er war hungrig. In seinem ganzen Leben war er noch nicht so hungrig gewesen wie jetzt in diesem Augenblick.
Die Lichter des Serails lockten. Noch ein paar Längen, und er konnte sich auf seinem Lager ausstrecken und von den Aufregungen dieses Tages erholen. Die nächsten beiden Wochen würde er seine Gemächer nicht mehr verlassen.
Seine Blicke schweiften durch den dunklen Garten. Jemand bewegte sich über den Weg, Stimmen murmelten, leises Gelächter erklang. Dort erging sich ein Höfling mit einer Dame. Die Nachtaugen des Panthers sahen das Schimmern ihrer milchweißen Haut, den Glanz des rötlichen Haars. Der Mann war uninteressant, er war unbewaffnet und wirkte verweichlicht und nicht allzu kräftig. Der Panther duckte sich noch etwas tiefer. Er öffnete das Maul und sog die warme Nachtluft über seine Zunge. Blütenduft vermischte sich mit dem verlockenden Geruch des warmen, lebendigen Fleisches. Er war hungrig. So hungrig. Und dort flanierte leichte Beute vor seiner Nase auf und ab.
Er schlich vorwärts, ein schwarzer Schatten in der nächtigen Dunkelheit. Das Laub, das er berührte, raschelte leise, aber seine Schritte waren vollkommen lautlos. Seine Augen glühten, die Gier, der Hunger trieben ihn vorwärts.
Seine Schritte beschleunigten sich. Tief geduckt flog er über die Rasenfläche, die ihn von dem Paar trennte. Jetzt wurde derMann aufmerksam. Er sah zu Amayyas hin, schrie auf, warf sich vor seine Begleiterin. Amayyas fühlte, wie seine Muskeln sich zum Sprung zusammenzogen.
Ein Ruf ließ ihn innehalten. Eine Stimme schrie seinen Namen, und das lähmte für einen Augenblick seine Mordlust und seine Angriffswut. Er fuhr herum, voller Zorn über die Störung.
»Amayyas«, rief die Stimme erneut. Ein hochgewachsener Mann in hellen Kleidern rannte über den Rasen auf ihn zu. Er zeigte keine Angst, und das erstaunte den Panther. Der Gedanke an das seltsame Mädchen schoss durch seinen Kopf, das ebenfalls ohne Furcht mit ihm gesprochen hatte. Der Gedanke ernüchterte ihn und kühlte die Hitze der Jagd ab. Er kauerte sich nieder und wartete, bis der große Mann an seine Seite gelangt war und sich neben ihn kniete. Dieser legte furchtlos seine Hand auf den Nacken des Panthers. »Du bist schon vollkommen verwandelt«, sagte er leise. »Wie kann das sein? Es ist noch immer Dunkelmond, mein Prinz.«
Amayyas schloss resigniert die Augen. Ein tiefer Seufzer hob seine Brust. »Aspantaman«, sagte er mühsam. Es war so schwer zu sprechen, wenn er in dieser Erscheinung steckte. »Ein Daeva hat dies bewirkt.«
Der Obersteunuch musterte ihn mit großer Sorge in den Augen. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er. »Musst du jetzt so bleiben?«
Amayyas liefen Schauder über das Fell. Darüber hatte er noch nicht nachzudenken gewagt. Würde sich die vorzeitige Verwandlung am Ende als dauerhaft und unumkehrbar erweisen? Musste er nun den Rest seines Lebens eingesperrt in seine Gemächer verbringen?
»Ich hoffe nicht«, antwortete er. »Aber mein Vater soll nach dem Magush senden.«
Er ließ sich von Aspantaman ins Haus geleiten. Der Weiße Obersteunuch hatte das zitternde Pärchen zu beruhigen gewusst und sorgte nun dafür, dass sie auf ihrem Weg niemandem begegneten.
Amayyas lag im Halbdämmer des Gemaches. Aspantaman hatte die Vorhänge zugezogen, die sein Lager abschirmten, und das sanfte Licht der Kerzen und Öllampen schimmerte auf den Seidenkissen, auf die er gebettet lag. Er war satt und müde, aber dennoch floh der Schlaf seine brennenden Augen. Er streckte die Glieder, fuhr die scharfen Krallen aus, gähnte und rollte sich wieder zusammen. Er schloss die Augen bis auf einen schmalen Spalt und ließ seine Gedanken wandern.
Das Mädchen ‒ seine Retterin und doch seine Todfeindin, denn sie war eine Vertraute des Schlangengottes. Sie ging ihm nicht aus dem Sinn. Woher kam sie? Was war so seltsam an ihr? Er beschwor ihr Bild herauf. Ein Gesicht, das so zart und gleichzeitig so schrecklich verunstaltet war.
Die ungleichen Augen: strahlend grün das eine, schattenhaft verschleiert und unheilvoll das andere. Die zierliche Gestalt in Gewändern, die ebenso deutlich sprachen wie die stolze Haltung des Mädchens: Sie war keine Dienerin, keine Sklavin, trotz der dunklen Haut, sondern musste einem vornehmen Haus angehören. Wahrscheinlich war sie die Tochter eines
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