Equinox
Irrtum: Die Akte war gar nicht meine. Jansens Cursor war eine Position zu weit gerutscht. Das Foto zeigte Wassili) Kryvidnadse. Den Chefsteward. Dessen Name mir nicht hatte einfallen wollen. Den ohne Kopf.
Mürrisch hastete ich die engen Personalgänge entlang, mürrisch und gehetzt zugleich. Und besorgt. Ernsthaft besorgt. Es gibt kaum eine ernsthaftere Besorgnis als die um den eigenen Hals. Man stelle sich mal vor: Jemand drückt einem halb analphabetischen Killer ein unscharfes Foto und einen hingekrakelten Namen in die Hand - einen hingekrakelten Namen, der, wie es der Teufel will, mit Kry- anfängt, und, tja. Sollst mal sehen. Der Verdacht, nur durch einen blöden Zufall noch - noch! - mehr oder weniger munter herumzulaufen, holte seltsame Töne aus meinem Verdauungstrakt. Und nichts in Erfahrung gebracht, um meine Mutmaßungen zu unterstützen! Denn es war natürlich bei Security-Stufe zwei geblieben, auch nach Aufrufen der richtigen Akte, und Jansen hatte, vor allem, wie ich deutlich spürte, im Beisein Honnaidos, nicht mit sich reden lassen.
Ich machte mir eine geistige Notiz, bei nächster sich bietender Gelegenheit mal Ratso nach Albanern an Bord zu befragen. Unauffällig. Und unter einem Vorwand. Nicht, dass der mich an die Bande verscherbelte, wenn es sie gab.
Und noch etwas anderes nagte an mir: »Es braucht menschlichen Input.« Wer, fragte ich mich, Eiskübel unterm Arm, hat uns die Kabinentemperatur so hochgejubelt? Und warum? Wenn alles, was wir im Grunde haben wollten, irgendetwas in der Nähe von Kühlhaustemperatur …
Kühlhaus. Genau. Wenn sie da auch wahrscheinlich keine Eiswürfel lagerten, so dann doch vieles, vieles andere in kalter, eiskalter Form.
Frostiger Nebel schlug mir entgegen und hektische Betriebsamkeit. Verdammt, es war nicht mehr lange bis zum Mittagessen. Ich schnappte mir einen der gefütterten Kittel vom Haken und tat einfach so, als gehörte ich dazu.
Mit dem Läuten der Mittagsglocke leerten sich die Deckstühle, und ich riss Bullauge und Tür bis hintenhin auf, auch wenn es neben der Luft die Beschallung hineinließ. Die schwarzen Säcke waren prall mit konservierter Kälte, die Kabinentemperatur sank, endlich, in erträgliche Regionen, und ich atmete das erste Mal heute ein bisschen durch, da wurde Loco in Acapulco unterbrochen für eine in sechs Sprachen wiederholte und damit auch um den letzten Hoffnungsschimmer eines gnadenreichen Missverständnisses gebrachte Durchsage: Der geplante Landgang in Tromso müsse leider, leider ausfallen. Wegen Ausbruchs von Maul- und Klauenseuche waren der gesamte Hafen und die dazugehörende Küstenregion zum Quarantänegebiet erklärt worden. Die Equinox würde sich nach einem Wendemanöver wieder auf den vorgesehenen Kurs nach Norden begeben. Alkohol, dachte ich.
DREI
70 % Vol. Ja! Und keines weniger. Das war es. Die Aussicht, eine weitere unbestimmte, unübersehbare Zeit lang in Begleitung eines gärenden Leichnams reisen zu müssen, verlangte nach einem starken Balsam für meine Nerven. Wodka also. Die beste Marke. Die gleiche übrigens, die den russischen Präsidenten Boris Jelzin seinerzeit zu solch einer Vielzahl unvergesslicher Auftritte auf nationalem wie internationalem Parkett beflügelt hatte. Ich nahm zwei Pullen. Schachtel Montechristos auch. Die Cohibas waren fast alle, und irgendwie kam ich so langsam auf den, wie soll ich sagen, gehobenen Geschmack. Doch keine Fischeier heute, so viel war sicher. Man muss sich von dem Zeug mal so viel reingestopft haben, dass es einem wieder hochkommt, dann kann man’s für ‘ne Weile echt nicht mehr sehen, Beluga hin oder her. Stange Zigaretten, zwei Kästen Beck’s, neues goldenes Feuerzeug. Das andere hatte ich irgendwo verbaselt. Kiste Barolo noch, ist immer gut zum Nachspülen, wenn einem der Hals vom Kiffen ein bisschen kratzig geworden ist. Sonst noch was? Mir fiel nichts mehr ein.
Ich schob den Wagen an die Kasse, packte alles nacheinander aufs Band, Elena scannte die Sachen durch, ich packte alles wieder zurück in den Drahtkorb, Elena sah auf und sagte: »Ein Euro, achtzig Cent, bitte.«
Ich zog Jochens neue Ginza-Kreditkarte aus der Tasche, und Elena reagierte mit der antrainierten Begeisterung: »Oh, Sie zahlen mit Ginza! Dann gehen da natürlich noch einmal fünfundzwanzig Prozent runter.«
Fast alles war frei an Bord. Fast alles. Die Mahlzeiten und die Getränke bei Tisch sowieso. Das gesamte Sport- und Unterhaltungsprogramm auch. Salat- und
Weitere Kostenlose Bücher