Er liebt mich, er liebt mich nicht - Gibson, R: Er liebt mich, er liebt mich nicht - Daisy's Back in Town
Erinnerungen an ihr Leben in dieser Stadt gezogen wurde. Sie hatte vorgehabt, die Situation Jack zu erklären, ihm Stevens Brief zu geben und seinen Ausbruch über sich ergehen zu lassen. Das mochte nicht gerade einfach sein, aber immerhin eine klare Sache. Doch mittlerweile erschien sie ihr nicht mehr ganz so klar. Trotzdem musste es getan werden. In sieben Tagen würde sie wieder abreisen.
Sie versuchte es am Vormittag noch zwei weitere Male bei Jack, doch er meldete sich nicht. Sie hatte den Verdacht, dass er absichtlich nicht ans Telefon ging. Schließlich ging sie mit ihrer Mutter in die Kirche, danach aßen sie mit Lily und Pippen zusammen früh zu Mittag. Philipp »Pippen« Darlington war zwei Jahre alt und trug sein blondes Haar recht lang, weil seine Mutter es nicht übers Herz brachte, ihm die Löckchen im Nacken abzuschneiden. Er hatte große blaue Augen wie Lily und liebte Thomas the Tank. Außerdem trug er mit Begeisterung seine Mütze aus falschem Waschbärfell und schrie so laut NEIN!, dass man es sogar im benachbarten Bundesstaat hören konnte. Er
hasste Speisen, die man kauen musste, Spinnen und seine Turnschuhe mit Klettverschluss.
Daisy betrachtete den kleinen Jungen, der in seinem Hochstuhl am Mittagstisch ihrer Mutter saß, und bemühte sich, nicht die Stirn zu runzeln, als er Traubensaft aus seiner Kindertasse über seine gebackene Kartoffel goss. Daisys Mutter und Lily saßen gegenüber von ihr am Tisch und schienen sich nicht daran zu stören, dass Pippen sein Essen zu einem widerlichen Brei vermanschte.
»Er ist ein mieses Schwein!«, erklärte Lily. Damit war ihr Exmann in spe, das miese Schwein Ronald Darlington, gemeint. »Ein paar Monate bevor er mit seiner verdammten Freundin abgehauen ist, hat er unsere Konten leer geräumt und das Geld irgendwo anders deponiert.«
Louella nickte bekümmert. »Wahrscheinlich in Mexiko. « Als Daisy und Lily noch Kinder waren, wären sie aus dem Zimmer geschickt worden, wenn sie das Wort »Schwein« bei Tisch gesagt hätten.
»Und was unternimmt dein Anwalt dagegen?«, fragte Daisy.
»Er kann nicht viel tun. Wir können nachweisen, dass das Geld auf den Konten war, aber nicht, wo es jetzt ist. Der Richter kann anordnen, dass er mir die Hälfte gibt, was aber nicht heißt, dass er es auch tut. Außerdem hat Ronald jahrelang schwarz gearbeitet, um das Finanzamt zu umgehen, deshalb hat er offiziell nur 20 000 statt 75 000 verdient.« Lily rammte ihr Messer in die Bratenscheibe und schnitt ungestüm einen Bissen ab. Obwohl Lily und Daisy Schwestern und zusammen groß geworden waren, standen sie einander nicht besonders nahe. Als Kinder hatten sie entweder gestritten oder waren einander aus dem Weg gegangen. Lily war auf der Mittelschule gewesen, als Daisy weggezogen war, und danach hatten sie im Grunde keine
Beziehung mehr gepflegt. Doch nach Stevens Tod war Daisy klar geworden, wie wichtig ihre Familie für sie war. Sie musste an der Beziehung zu ihrer Schwester arbeiten.
»Er hat gesagt, wenn ich ihn beim Finanzamt anschwärze«, fuhr Lily fort, »wird er das Sorgerecht für Pippen einklagen. Was soll ich tun?«
Als sowohl ihre Mutter wie auch Lily Daisy anstarrten, ging ihr auf, dass es keine rhetorische Frage war. Lily hatte dunkle Ringe unter den Augen, als hätte sie lange nicht mehr richtig geschlafen. Ihr blondes Haar war kurz geschnitten und fiel in weichen Locken um ihr hübsches Gesicht, doch im Augenblick sah sie alles andere als weich aus. Nein, sie sah aus, als hätte sie eine Heidenangst. »Wieso fragst du mich? Woher soll ich das wissen?«
»Darren Monroe ist doch Anwalt«, bemerkte ihre Mutter.
»Stevens Vater ist im Ruhestand und lebt in Arizona. Und außerdem war er Strafverteidiger; Steven hat SoftwareProgramme entworfen, und ich habe keine Ahnung von Familienrecht. « Sie sah die Angst in Lilys blauen Augen, die Angst, plötzlich allein die Verantwortung für die Erziehung eines Kindes tragen zu müssen. Aber im Gegensatz zu Daisy war Lily nicht finanziell abgesichert und hatte keinen Beruf, mit dem sie ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. Daisys Beruf hatte ihr zwar auch kein großes Einkommen beschert, aber sie war eine gute Fotografin und hatte Beziehungen. Wenn sie Nathan und sich allein mit ihrem Einkommen würde durchbringen müssen, würde sie es schaffen. Lily war Hausfrau und Mutter, was an sich bewundernswert sein mochte, aber auf dem Arbeitsmarkt nicht gefragt war. Sie lebte in höchster Angst. »Ich versuche, mir
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