Er war ein Mann Gottes
Kaplan lieb hast, ist das also nichts Schlechtes. Es muss nur immer ganz im Stillen sein und fest in deinem Herzen verschlossen bleiben. Niemand darf es wissen.«
»Ja, ich werde mit keinem darüber reden«, hatte ich geflüstert und mich heimlich gefragt, ob der Herr Vikar wohl gemerkt hatte, wen ich wirklich meinte.
»Darf ein Kaplan denn mein Freund sein?«, wagte ich hinter dem schützenden Sprechgitter zu fragen.
»Ein Kaplan ist mit allen Menschen gut Freund«, antwortete der Herr Vikar. »Komm zu mir, meine Tochter, wenn du dich einsam und beladen fühlst. Mir darfst du alle deine Gaben bringen. Mir darfst du vertrauen, denn du bist mir von Gott anvertraut, weil ich berufen bin, die Liebe des Herrn unter die Menschen zu tragen. Ich liebe dich, meine Tochter, in der Liebe Gottes, die ewig ist. Wie unser Herr Jesus Christus bin ich immer für dich da und werde dein wahrer und guter Freund sein. Jederzeit.«
Das Schönste aber war, dass Frederic nicht bloß darüber redete. Er machte seine Worte wahr. Nicht nur heimlich unter dem Tisch, wenn es keiner sah, sondern ganz offen vermittelte er mir bei jeder Begegnung das Gefühl, etwas Besonderes für ihn zu sein. Kleine Gesten wie eine kurze Berührung, ein liebes Zublinzeln, ein simples Geschenk nur für mich, seine Fragen nach meinem Leben, meinen Gedanken und Gefühlen, meinen Wünschen und Träumen, sein Zuhören, seine Ratschläge, Rückfragen — all das gab mir die Sicherheit einer Nähe, die ich so niemals empfunden hatte. Nicht einmal bei meinem Vater.
Das sei eben die Liebe Gottes, die Liebe Jesu, sagte Frederic. Durch ihn spreche der heilige Geist zu mir, weil er geweiht und sein Mund berufen sei, die Liebe Gottes zu predigen.
Für Frederic, den psychologisch geschulten Seelsorger, war es ein Leichtes zu erkennen, dass ich eine verlorene Seele war, die nur darauf wartete, aufgelesen und mitgenommen zu werden. Ich war ein Kind, als ich ihn erstmals sah, naiv und unerfahren in allem und sehr allein. Er musste nur die Hand ausstrecken, schon war ich sein.
Seine Lockmittel bestanden aus Zeitgeschenken und Zuwendung. »Was denkst du? Was fühlst du dabei, wenn das oder das passiert? Was macht es mit dir, wenn die anderen das oder das tun? Was wünschst du dir? Was träumst du? Was hältst du davon? Was verstehst du darunter?« Nie hatte mich jemand so gefragt und mir dann ehrlich interessiert zugehört, mich ernst genommen, angenommen. Schon allein diese Gespräche berauschten mich vor Glück.
Einfühlsam zu fragen, aufmerksam zuzuhören, sich selbst zurückzunehmen und scheinbar nur für den anderen da zu sein, all dies hatte Frederic in seiner Ausbildung zum Seelsorger gelernt. Davon wusste ich nichts. Ich spürte nur, wie sehr er mir zugewandt war, und das war, was ich mir immer, immer gewünscht hatte.
Es machte mich stolz, dass alle sahen, dass Frederic mich von Anfang an »anders« behandelte. Wenn es galt, ihn für irgendetwas zu gewinnen, schickten sie immer mich. »Dir sagt er nicht nein. Du bist halt seine Beste.« Neidvoll sagten sie es. Und ich sog es auf wie ein Schwamm. Wie sehr hatte ich mich gesehnt, irgendjemandes Beste zu sein.
Alkohol und Musik hätte ich wirklich nicht gebraucht, um meinem Vikar alles anzuvertrauen, was mich beschäftigte. Er bot mir trotzdem beides an, wusste er doch, wie sehr es mir schmeichelte, an der Welt der Erwachsenen teilhaben zu dürfen.
So kam ich an jenem Abend vor der Fahrt nach Assisi erst gegen Mitternacht nach Hause. Obwohl der Alkohol mir nicht besonders gut schmeckte, hatte ich nicht nur ein Glas Eierlikör bei Frederic getrunken und verspürte am nächsten Morgen den Anflug des ersten Katers meines Lebens.
»Was ist denn los mit dir?«, fragte meine Mutter, als ich den Frühstückstoast, den ich normalerweise liebte, stehen ließ und auch kein Glas Kakao wollte. »Bist du krank? Willst du zu Hause bleiben?«
Die Vorstellung, nochmals ins warme Bett schlüpfen zu können, war verlockend. Wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass Frederic in der zweiten Stunde Religion unterrichtete. In seinem Unterricht fehlen? Niemals! Meine Mutter sah mir kopfschüttelnd nach, als ich mit der rumpelnden Schultasche über der Schulter davoneilte.
Wie lange ich bei Frederic gewesen war, hätte ich meinen Eltern frei heraus sagen können. Sie hätten mich nicht getadelt. Was diesen Besuch zum Geheimnis machte, war der Eierlikör. Alkohol durfte ich nicht trinken. Daran gab es keinen Zweifel.
Hätten meine
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