Er war ein Mann Gottes
meiner eigenen Wahrnehmung nicht. Wer war ich denn, dass ich mir anmaßen wollte, einen Mann Gottes zu beurteilen?
Mein Vater hatte mir einmal erklärt, dass es nichts Schlechtes sei, auf einer Feier oder mit Freunden Alkohol zu trinken. Jesus Christus habe schließlich auch Wein getrunken und aus Wasser Wein gemacht, als seine Mutter ihn darum gebeten hatte. Ja, er habe sogar verkündet, dass alle Christen zu seinem Gedenken Wein trinken sollten.
Wie oft habe ich darüber nachgedacht, ob mir das, was später geschah, erspart geblieben wäre, wenn ich gewagt hätte, Frederic als Priester ernsthaft und offen in Frage zu stellen. Zu einer sicheren Antwort kam ich nie.
Ich war ein Kind. Als ich ihn kennen lernte, war es Herbst und ich soeben zwölf geworden. Wenig später wurde unsere erste Ministrantinnengruppe gegründet. Zur Adventszeit merkte ich erstmals, dass Frederic mich anders behandelte als die anderen Mädchen aus der Gruppe.
Ja, ich hatte mich mit neun oder zehn Jahren zum ersten Mal in Jungs verknallt und noch früher für Stars und meinen Lehrer geschwärmt. Ich hatte Frederic gebeichtet, »auf einen Mann zu stehen«. Aber, um ehrlich zu sein, wusste ich nicht mal, was diese Redewendung bedeutete. Ich war ungeküsst und unberührt und weiter nichts als ein kleines Mädchen, das weder Menschenkenntnis noch Lebenserfahrung hatte. Selbst wenn ich Frederic kritischer gesehen hätte, hätte ich mich wohl nicht vor ihm schützen können. Jedenfalls folgte ich eines Tages seiner Einladung, ihn auf seinem Zimmer im Pfarrhaus zu besuchen.
Eierlikör mit Musik
Es war wenige Tage vor unserer Abreise nach Assisi. Wir hatten uns in der Gruppe mit Frederic getroffen und den ganzen Abend Pläne geschmiedet, wie die lange Zugreise am besten zu überbrücken wäre, was uns im Kloster erwarten und was wir in Assisi unternehmen würden. Alle waren aufgeregt und voller Vorfreude. Für mich sollte es der erste Urlaub ohne Eltern sein.
Als Frederic mich nach dem Treffen zu sich ins Pfarrhaus einlud, weil er mir ein paar Musikkassetten ausleihen wollte, dachte sich niemand etwas dabei. Frederic hatte klugerweise auch noch ein, zwei andere Mädchen eingeladen, die allerdings nicht darauf eingingen. Es schien reiner Zufall, dass ich die Einzige war, die ihm schließlich folgte.
Tatsächlich wusste Frederic genau, dass diese Mädchen ihm nie in sein Zimmer gefolgt wären. Ihre Eltern waren weit strenger als meine und hätten weder einen solchen Besuch noch ein so spätes Nachhausekommen geduldet. Es war ja schon längst dunkel.
Ich, die coole Cora, hatte dieses Problem nicht. Ich gehörte nicht zu denen, die spätestens ein bis zwei Stunden nach der Messe zu Hause sein mussten. Auf mich wartete niemand. Meine Eltern gingen regelmäßig gegen neun Uhr abends zu Bett und hatten mir deshalb einen Schlüssel gegeben.
»Ihr solltet eure Eltern besser erziehen. Macht’s wie ich!«, hatte ich gestichelt. »Dann könnt ihr auch bis um elf oder länger beim Ministrantentreffen bleiben.«
Dass Frederic an diesem Abend geschickt taktierte und die Einladung für alle nur zum Schein ausgesprochen hatte, merkte ich nicht. Im Gegenteil, ich ärgerte mich sehr darüber, als er sagte: »Okay, wenn nur Cora noch Zeit hat, dann lade ich euch lieber ein anderes Mal ein. Ich möchte, dass ihr alle zusammen kommt. Es spielt ja keine Rolle. Wir werden in Assisi Zeit genug zum Schwatzen haben.« Mit der bei uns im Schwarzwald üblichen Umarmung, Küsschen links, Küsschen rechts, verabschiedete er sich von uns und ging.
Ich hatte Mühe, meine Enttäuschung zu verbergen, blieb aber noch ein paar Minuten mit den anderen zusammen, ehe die Gruppe sich auflöste und alle ihrer Wege gingen. Da niemand in meine Richtung ging, machte ich mich allein auf den Weg durch die Gasse zwischen Pfarrhaus und Kirche.
In Gedanken an Assisi und die verpasste Besuchsgelegenheit versunken, erschrak ich furchtbar, als plötzlich eine Hand aus der Dunkelheit nach mir griff. Doch ehe ich aufschreien konnte, trat Frederic schon in den Lichtkreis der Bogenlampe, die über dem Pfarrhausportal angebracht war. »Ich hab gesehen, du warst enttäuscht. Wenn du willst, kannst du noch kurz mit rauf«, sagte er.
Ich dachte gar nicht darüber nach, ob ich es wollte. Ich verspürte nur einen unbändigen Stolz, weil er auf mich gewartet und mich, mich, mich zu diesem Besuch auserwählt hatte. In diesem Moment wäre ich ihm gefolgt, wohin immer er mich geführt hätte. Ob er
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