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Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jäckel
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das wusste? Wahrscheinlich ja. Mit einem verschwörerischen Grinsen legte er den Finger an die Lippen und ging mit mir die breit geschwungene Sandsteintreppe im Innern des Pfarrhauses hinauf.

    Das Pfarrhaus war großzügig gebaut. Im Erdgeschoss lebte die Pfarrhaushälterin. Sie hatte dort ihre eigene Wohnung. Außerdem befanden sich dort die Küche und das gemeinsame Esszimmer sowie ein großes, wohnzimmerähnliches Besucherzimmer, in dem Herr Pfarrer Punktum Honoratioren der Kirche oder andere Gäste empfing.
    Im ersten Geschoss erstreckte sich seine Pfarrwohnung über mehrere Zimmer. Daneben gab es eine Bibliothek, die auch Gemeindemitgliedern offen stand, und das Zimmer der Pfarrhaussekretärin.
    Im zweiten Geschoss lagen die beiden suitenähnlich verbundenen Zimmer des Pfarrvikars und des Kaplans, dessen Stelle zurzeit vakant war, sowie ein paar Gästezimmer. Darüber gab es einen riesigen Dachboden, der Abstell- und Trockenboden zugleich war.
    Im Erdgeschoss war ich schon öfter gewesen. Meine Mutter kannte die Pfarrhaushälterin. Als kleines Mädchen hatte sie mich manchmal zu einem Kaffeebesuch mitgenommen. Auch besaß ich eine Lesekarte für die Pfarrgemeindebibliothek, und als Grundschülerin hatte ich mir dort häufig Kinderbücher ausgeliehen.

    Ich wusste, dass wir leise sein mussten, um niemanden zu wecken. Darum folgte ich Frederics Aufforderung zu schweigen. Natürlich kam ich dabei nicht eine Sekunde auf den Gedanken, dass ich auch schweigen musste, weil es für mich als Zwölfjährige grundsätzlich nicht erlaubt war, dem Vikar um diese nächtliche Uhrzeit einen Besuch abzustatten.
    Frederic auf Zehenspitzen die Treppe hinauf nachzuschleichen und mucksmäuschenleise an den Türen der Pfarrhaushälterin und Pfarrer Punktums vorbeizuhuschen, machte mir großen Spaß. Die ganze Szene kam mir vor wie ein Spiel, das zwei Kinder spielen, die sich hinter dem Rücken der Eltern ein paar Süßigkeiten stibitzen.
    In Frederics Zimmer angekommen, wurde mir plötzlich doch ein wenig mulmig zumute. Nicht weil es das Zimmer des Vikars war, sondern wegen des Zimmers selbst. Die dunkle Einrichtung mit schwerem, geschnitztem Eichenmobiliar und die ebenfalls mit Eiche vertäfelte Decke wirkten bedrückend.
    Die beiden zur Straße hinausgehenden Fenster waren von samtbraunen Übergardinen eingerahmt. An der Wand dazwischen hing ein mannshohes Eichenkreuz mit dem sterbenden Gekreuzigten, der mit leidvoll verzerrtem Antlitz »Vater, Vater, warum hast du mich verlassen?« zu schreien schien. Davor stand ein Betschemel mit Kniebank und Ablage für das Gebetbuch, den Frederic zur privaten Andacht benutzte.
    Den Fenstern gegenüber lud eine Sitzgruppe mit schwarzem Lederbezug zum Verweilen ein. An der Wand hinter dem Sofa hing ein Bild des Heilands mit durchbohrtem Herzen in der offenen Brust. Sein sanfter, stiller Blick, der immer auf demjenigen zu ruhen schien, der ihn erwiderte, schien mir bei späteren Besuchen stets traurig und vorwurfsvoll.
    Von einem schmalen Flur hinter der Eingangstür führte links eine Tür zum Bad. Rechts ging es ins Schlafzimmer. Bereits bei meinem ersten Besuch konnte ich durch die halb geöffnete Tür erkennen, dass es mit einem schmalen Einzelbett, einem Kleiderschrank und einem weiteren Betstuhl ausgestattet war.
    Während ich mich noch verstohlen umsah, zog Frederic die bodenlangen Übergardinen zu, aus denen ein modriger Geruch aufstieg, den ich manchmal auch schon an seiner Kleidung wahrgenommen hatte. Die düstere Einrichtung, der Mottenkugelgeruch und dazu das fromme Ambiente — am liebsten wäre ich in diesem Moment auf dem Absatz umgekehrt und davongerannt.
    Als ob Frederic meine Verunsicherung gespürt hätte, wandte er sich zu mir um und lud mich mit einer kleinen Handbewegung freundlich lächelnd zum Platznehmen auf dem schwarzen Sofa ein. Meine Befangenheit verflog.
    »Möchtest du etwas trinken?« Frederic stand vor einem schmalen Eckschrank und schloss die Tür seiner Bar auf.
    Ich zögerte. Kirschwasser, Mirabelle, Zwetschgenwasser, Williams Christ, ich erkannte die Flaschen, die sich auch im Schrank meiner Eltern befanden. Nach dem Essen nahmen beide gern ein Gläschen davon zu sich. Ich bekam keines. Das war selbstverständlich.
    Frederic blinzelte mir verschwörerisch zu. »Ich hab da was. Davon kannst du die ganze Flasche trinken, ohne dass es einer riecht. Du wirst es mögen.«
    Er zog hinter den Schnäpsen eine nicht etikettierte Flasche mit gelbem Inhalt hervor.

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