Er war ein Mann Gottes
abgab.
Neidvoll und unglücklich zugleich, beobachtete ich, wie Frederic sich plötzlich speziell einer Jugendlichen zuwandte, deren Eltern zu den sozial schwachen Gesellschaftsschichten unseres Ortes gehörten. Wenngleich sie bereits fünfzehn Jahre war, kannte ich Charlotte flüchtig aus dem Kindergarten und der Grundschule. Danach hatten wir uns aus den Augen verloren. Soweit ich wusste, hatte sie auch nie etwas mit der Kirche am Hut gehabt. Und zu uns »Minis« gehörte sie schon gar nicht.
Es überraschte uns alle, als sie plötzlich jedes Mal nach der abendlichen Anbetung mit ihrem Mischlingshund auf dem Kirchplatz auftauchte. Sobald wir aus der Spätschicht kamen, saß sie einfach mit ihm da. Manchmal hockte sie mit dem Rücken zur Wand auf den Treppenstufen des Aufgangs zum Kirchenportal. Meistens aber kauerte sie neben ihrem Hund auf dem Erdboden unter einem der drei großen Gingkobäume, die in einer Gruppe auf dem Kirchplatz standen. Oft trug sie ein Kofferradio mit Kopfhörer bei sich und bewegte ihren Oberkörper zu einer für uns unhörbaren Musik.
Früher hatte sie ihr langes Haar spaghettiglatt frisiert. Jetzt umschloss es ihr Gesicht so kurz und dicht wie ein Maulwurfsfell und stand über der Stirn in einer frechen Welle hoch.
Hätte Frederic mir nicht in Assisi gesagt, wie sehr er auf Kurzhaarfrisuren steht, wäre es mir völlig gleichgültig gewesen, wie Charlotte aussah. Jetzt wurde ich das dumpfe Gefühl nicht los, dass sie sich nur seinetwegen so hergerichtet hatte. Ihr gesamter Aufzug passte dazu. Ihre ausgefransten Jeans waren dicht unterhalb des Po-Ansatzes und auf den Oberschenkeln bis nahe zum Schritt künstlich fadenscheinig gearbeitet. Bei jeder Bewegung waren nackte Haut oder ein Stückchen Slip zu erkennen. Ihr Oberteil sah aus, wie von einer jüngeren Schwester geerbt, und Schuhe trug sie grundsätzlich keine, obwohl sie rot lackierte Zehennägel hatte.
Von uns eher braven »Minis« unterschied Charlotte sich wie Tag und Nacht. Selbst ich, die ich bekannt für meine pinkfarbenen Hosen, Ringelstrümpfe und schrillen Tops war, hätte nicht wagen dürfen, so pflasterschwalbenartig aus dem Haus zu gehen. Ich musste zugeben, sie wirkte exotisch. Und die Jungs aus unserer Gruppe waren verrückt nach ihr.
In der Regel hatte Charlotte eine selbst gerollte Zigarette im Mund, wenn wir aus der Kirche kamen, oder streute soeben Tabakkrümel in ein Zigarettenpapier, während ihr Hund seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt hatte und uns bei aller scheinbaren Schläfrigkeit wachsam beäugte. Wenn Frederic vor ihr stand und der Zigarettenrauch sich in einem bläulichen Wolkenfaden zu ihren Augen empor und weiter bis zu ihm kräuselte, hätte ich schreien mögen. So hatte er nicht bei ihr zu stehen! Und dabei hätte ich gar nicht genau benennen können, wie er bei ihr stand. Es war dieses dünne blaue Rauchband, diese gemeinsam eingeatmete Luft. Was weiß ich?
Wie Franziska und ich bald erkannten, kam Charlotte vor allem, um mit Frederic Musik zu tauschen. Sie schienen denselben Geschmack zu haben, die gleichen Gruppen zu kennen und zu lieben. Ihr Fachsimpeln nervte mich. Niemals würde ich dabei mithalten, geschweige denn, Charlotte ausstechen können. Sie war schon auf Open Air Festivals in Köln und Paris gewesen. Freunde hatten sie mitgenommen. Wenn sie davon erzählte und damit prahlte, wie sie mit den Stars »backstage« gewesen sei und Autogramme von ihnen auf die bloße Haut geschrieben bekommen habe, glänzten Frederics Augen. Ich hasste sie. Und ich hasste ihn. Doch mehr als beide hasste ich mich, weil ich nicht mithalten konnte und mich so verlassen fühlte wie nie zuvor. Ihr gab er seine Musik und mir nicht einmal einen Beichttermin.
»Mach dir nichts daraus«, tröstete Franziska mich. »Das ist doch bloß wie in Assisi mit Estefania. Du bist ihm immer noch die Wichtigste. Er macht sich immer noch was aus dir. Er darf es ja nur nicht zeigen. Da kommt ihm die doofe Charlotte gerade recht. Warts ab.«
Ich wollte ihr gern glauben. Doch April, Mai, Juni, Juli vergingen, ohne dass Frederic sich auch nur einmal um mich gekümmert hätte. Ich schien aus seiner Gnade gefallen, und der einzige Grund, der mir hierfür einfiel, war, dass ich auf seine Fragen niemals geantwortet hatte.
Nächtelang quälte mich seine Stimme im Traum. »Was bin ich für dich? Was willst du von mir?« Jedes Mal schreckte ich schweißgebadet auf, weil ich die Szene auf der Treppe in Assisi neu erlebte und
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