Er war ein Mann Gottes
rannte, rannte ohne Ende, ohne auch nur ein Stück vom Fleck zu kommen. Dabei rückte Frederics Gesicht vor meinem inneren Auge immer näher und näher, wurde immer größer und größer, bis ich schrie und erwachte.
Eine Flasche Sekt auf ex
Man kann sich vorstellen, wie zermürbt und ausgehungert ich innerlich nach einem Zeichen seiner Freundschaft war, als Frederic eines Mittwochs im August, kurz vor der Anbetung, unserer Spätschicht, unvermittelt auf mich zukam und fragte: »Hast du nachher noch Zeit für mich? Kannst du noch bleiben? Ich möchte mit dir reden.«
Vor Dankbarkeit und Aufregung wurde ich schwach. Ich brachte kein Wort heraus, konnte nur nicken.
Er lächelte. Wie gebannt starrte ich ihm nach, als er ging. Wenn ich heute die Augen schließe, kann ich immer noch sehen, wie der Saum seiner Hosenbeine sich um die schwarzen Haferlschuhe bewegte.
Von der Anbetungsstunde in der Kirche bekam ich nichts mit. Ich registrierte kaum, was geredet wurde, während wir anschließend noch alle beisammen vor der Kirche standen. Ob andere bemerkten, dass etwas mit mir nicht stimmte, weiß ich nicht. Franziska fiel es auf.
»Was hast du? Ist alles okay?« Ihre großen Brombeeraugen schauten mich liebevoll an. Wie gern hätte ich mich ihr an den Hals geworfen und ihr jeden Buchstaben von Frederics Einladung einzeln wiederholt. Stattdessen drückte ich nur ihre Hand.
»Sagst du’s mir später?«
»Mhm.« Ich nickte.
»Ich hab sofort gemerkt, dass etwas Besonderes los war«, erklärte sie mir Jahre später. »Und ich hab wahnsinnige Angst um dich bekommen. Wenn mich einer gefragt hätte, hätte ich geschworen, dass du mit Frederic schlafen würdest, und ich hatte irre Gewissensbisse, weil ich dich eigentlich hätte warnen und davon abhalten müssen, Dummheiten zu machen. Ich dachte sogar daran, mit meiner Mutter zu reden. Aber ich konnte es nicht. Ich hab mich immer so eins mit dir gefühlt. Ich konnte das nicht aufs Spiel setzen, dich nicht verraten. Ich wusste ja, dann wäre alles aus. Du hättest mir nie mehr etwas von alledem gesagt. Du konntest mir ja nur vertrauen, weil ich dich immer verstanden hab. Aber das war sehr belastend in dem Moment.«
In meiner Konzentration auf Frederic habe ich damals nichts von dem Sturm gespürt, der in Franziska tobte. Ich hatte auch keine Angst. Ich glaube, ich spürte gar nichts. Da war nur dieser übermächtige, alles bestimmende Gedanke, dass er mich sehen wollte, mich sprechen wollte. Endlich wieder mich.
Als die »Minis« sich allmählich verlaufen hatten und der Kirchplatz leer wurde, forderte Frederic mich auf, schon mal zur Garage vorauszugehen, in der sein Auto parkte. Er müsse noch schnell etwas aus seinem Zimmer holen. Da der Weg zur Garage derselbe wie mein regulärer Heimweg war, fiel niemandem auf, dass wir verabredet waren. Nur Franziska wusste es und winkte mir vom Rad aus nochmals zu. Sie musste in entgegengesetzter Richtung heim.
Als Frederic nach einer Weile kam, trug er eine große Flasche Sekt bei sich, die er zunächst unter seinem anthrazitfarbenen Sakko versteckt hielt und erst im Auto hervorzog. Ein Mix zwischen Aufregung und Unbehagen machte sich bei diesem Anblick in mir breit, doch selbst wenn es um mein Leben gegangen wäre, hätte ich an diesem Abend nichts kritisiert. Ich wagte nicht einmal zu fragen, wohin wir denn fahren würden.
Dass Frederic den Weg in Richtung Bergwald einschlug, merkte ich schnell. Unser Ort liegt in einer Talsohle, die ringsum von weich geschwungenen Schwarzwaldhügeln umschlossen wird. Während die Hänge von Wiesen und Ackerland bedeckt werden, schließen sich auf den Höhen die inzwischen mit vielen Laubbäumen durchsetzten Tannenwälder an. Im Hochsommer fallen sie kaum im dunklen Tannengrün auf, doch im Frühjahr und im Herbst wirken ihre hellgrünen oder prachtvollen rotgelben Wipfel wie Lockenköpfe. Ich liebe den Wald und die ganz besondere Stille, die aus der lärmenden Autowelt fort in eine sanfte Anderwelt zu führen scheint.
Als Frederic das Auto auf einem schmalen Seitenweg parkte, wusste ich gleich, wo wir waren. Von diesem Platz aus führt ein Wallfahrtssteg über viele Stufen und gewundene Wegschlingen an zahlreichen Gebetsstationen vorbei zu einer Kapelle hinauf. Von der Krone der Mauer, die sie umgibt, kann man bei klarem Wetter bis zu den Alpen schauen. Der Aufstieg verläuft ziemlich steil, so dass nur Wanderer mit guter Kondition ihn zu nehmen pflegten. Entsprechend selten trifft man die
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