Er war ein Mann Gottes
war sauer. Obwohl er bei Estefania stand, die vor ihm auf einem Stein saß und zu ihm aufschaute, wie er es gern hatte. Ich warf ihm eine Kusshand zu. Alle lachten.
Franziska hatte recht. Es war ein Spiel, ein Teil des Abenteuers Assisi.
Heimfahrt in banger Nacht
Solange es ein Spiel auf Distanz war, machte es Spaß, Frederic eifersüchtig zu machen. Gemeinsam mit Franziska konnte ich darüber kichern und Pläne schmieden, wie es weitergehen könne. Doch sobald er mir nahe kam, erstarrte ich.
Auf der Heimfahrt von Assisi zum Beispiel. Die ganze Fahrt, eine ganze Nacht lang verbrachte Frederic an meiner Seite. Wegen des überfüllten Zuges waren unsere Plätze besetzt. Über alle Waggons verteilt standen, saßen, lehnten wir alle, die wir in den Abteilen keinen Platz mehr gefunden hatten, irgendwie beisammen, starrten aus dem Fenster, nickten zusammen ein und wachten gemeinsam auf.
Alle sahen, dass Frederic und ich eng beisammenstanden. Es schien Zufall. Entstanden aus Platzmangel. Ich, nein, wir beide wussten, es war kein Zufall. Er hatte so lange gewartet, bis ich einen Platz für meine Sachen auf dem Gang ergattert und mich dazugehockt hatte. Erst dann hatte er sich scheinbar notgedrungen dicht neben mich gequetscht. Alles schien unvermeidliche Notwendigkeit.
Genau wie an jenem Abend in der Pizzeria, an dem wir einander erstmals so nah gekommen waren, konnte auch jetzt niemand etwas Unrechtes daran finden. Trotzdem empfand ich diese seltsam intime, schwüle, fast atemlose Nähe in dieser gemeinsamen Nacht als etwas, womit ich nicht umgehen konnte, obwohl nach außen hin alles vollkommen harmlos wirkte.
Jedes Mal, wenn der Servicewagen durch die Gänge geschoben wurde, an jeder Haltestation, und es waren viele, kaufte Frederic sich ein weiteres Bier. Langsam verwandelte der Alkohol ihn vor meinen Augen, bis aus meinem verehrten Vikar, meinem bewunderten Freund, wieder sein betrunkenes, bedrohlich bedrängendes Zerrbild wurde. Irgendwann wollte ich nur noch weg von ihm. In einen anderen Waggon, in ein anderes Abteil, einen anderen Gang, egal, wenn es nur weg wäre. Aber es ging nicht. Es war zu eng. Keiner wollte mich passieren, mich mit Sack und Pack über sich hinwegsteigen lassen.
»Was bin ich für dich?« Da war sie wieder, die Frage der Nacht.
Frederics Stimme, sein schwankender Blick, der mich festzuhalten versuchte, seine schönen Hände, die an meinem Haar und an meinem Pulli nestelten, sich auf mein Bein legten und höher schoben, vor der eigenen Courage zurückzuckten und verschwanden, nur um gleich wieder da zu sein. Ich schaltete auf stur, biss die Zähne zusammen.
»Was willst du von mir?«
»Was erwartest du von mir?«
»Was bedeute ich dir?«
»Was bin ich für dich?«
»Ich hab immer noch keine Antwort von dir.«
Seine Stimme schien sich Gänge in mein Innerstes bohren zu wollen.
Ich reagierte nicht. Wandte den Kopf ab.
Alkohol und Dunkelheit machten ihn entweder mutig oder ließen ihn vergessen, dass uns jemand hören könnte. Ich vergaß es nicht. Im Gegenteil, es kam mir vor, als hingen seine Fragen an einer Glocke.
Wie oft er mich fragte, habe ich nicht gezählt. Aber es war oft. In immer denselben Worten, die mich bis heute in meinen Schlaf hinein verfolgen. Ich höre sie in meinen Albträumen, auch wenn ich sie in Wein zu ertränken, in Zigarettenqualm zu ersticken, mit Musik zuzudröhnen versuche. Sie kriechen in meinen Kopf, auch wenn ich mir die Hände auf die Ohren drücke, mich unter meiner Bettdecke verkrieche, um diese Worte nicht mehr in meinen Kopf hineinzulassen.
Damals im Zug schämte und fürchtete ich mich und tat so, als höre ich nichts — genauso vergeblich wie heute.
Ich wollte nicht über seine Worte nachdenken. Wollte seine Fragen nicht beantworten.
»Besoffenes Gelaber war das«, redete ich mir ein, »den guten Atem nicht wert.«
Trotzdem fraßen Frederics Fragen sich in mich hinein. Ich wollte ihm ja gehorsam dienen. Ich wollte für ihn da sein, wie er für mich da war. Ich wollte für ihn sein, was Maria Magdalena für Jesus Christus war, wollte sein Vertrauen in mich rechtfertigen. Nichts war mir wichtiger, als so zu sein, wie er mich haben wollte. Aber was wollte er denn von mir hören? Was sollte, was durfte ich sagen? Worauf wartete er?
Ich wünschte mir, dass er mein Freund sein sollte. Aber das durfte und würde ich nicht sagen. Das musste er von sich aus begreifen oder eben nicht.
Er wusste doch schon alles von mir. Er wusste, dass ich
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